Zwischen Macht und Recht: Polens Weg zurück zur Rechtsstaatlichkeit
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Nach dem Ende der PiS-Herrschaft versucht die neue polnische Regierung, das Rad wieder zurückzudrehen. Doch wie beseitigt man autoritäre Verwerfungen mit den Mitteln des Rechts? Robert Grzeszczak über den langen Weg seines Landes zurück zum Rechtsstaat.

Die Ursachen der Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen und die Maßnahmen, die ergriffen werden sollten, um den Rechtsstaat wiederherzustellen, sind bestens bekannt. Sie wurden in vielen akademischen Analysen, Dokumenten internationaler Organisationen (darunter der Venedig-Kommission), sowie in Urteilen des EuGH, des EGMR und auch polnischer Gerichte - des Obersten Gerichts (Sąd Najwyższy) und des Obersten Verwaltungsgerichts (Naczelny Sąd Administracyjny) – dargelegt. 

Doch den Herausforderungen, die mit der Wiederherstellung des Staates verbunden sind, liegen komplexe politische und gesellschaftliche Bedingungen zugrunde. Die demokratische Koalition verfügt über die Mehrheit in beiden Kammern des polnischen Parlaments (Sejm und Senat) und kann daher Gesetze ändern oder neue Gesetze verabschieden. Die Regierung hat jedoch nicht die Mehrheit, um ein Präsidentenveto zu überstimmen. Darüber hinaus bleibt das ernsthafte Problem, wie man mit den zahlreichen Äußerungen des Marionetten-Verfassungsgerichts umgehen soll, das seinen politischen Charakter nicht mehr verbirgt und die vorherige Regierung auf jede erdenkliche Weise schützt.

Der Niedergang der Rechtsstaatlichkeit in Polen

In den Jahren 2015-2023 erlebte Polen die schwerste Krise der Rechtsstaatlichkeit seit dem Fall des "Eisernen Vorhangs" im Jahr 1989. Trotz der Wahlsiege der populistischen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (Prawo i Sprawiedliwość: PiS) in den Parlamentswahlen 2015 und 2019 konnte die Partei nicht die erforderliche Mehrheit erlangen, um die Verfassung zu ändern. Daher war das erste Ziel der Regierung die Übernahme und Abhängigmachung des Verfassungsgerichts (Trybunał Konstytucyjny), um die Kontrolle des Gesetzgebers zu lähmen. Innerhalb mehrerer Jahre wurden die Richterinnen und Richter am Verfassungsgericht ausgetauscht – auch bereits belegte Plätze wurden durch die Ernennung sogenannter Ersatzrichter besetzt – und das Gericht so vollständig untergeordnet, dass die Regierung ab 2018 frei war von echter verfassungsrechtlicher Kontrolle. Dieser Zustand dauert bis heute und könnte noch bis zum Ende des Jahres 2027 andauern.

Deshalb kam es während der PiS-Regierung zu Änderungen der Verfassung, allerdings nicht formal, sondern durch einfache Gesetze, die oft offensichtlich im Widerspruch zur Verfassung standen. Wichtig ist, dass verfassungswidrige Gesetze, wie z.B. das Gesetz über den Obersten Gerichtshof, das Gesetz über den Landesjustizrat, das Gesetz über die allgemeinen Gerichte, das Mediengesetz, weiterhin Teil des polnischen Rechtssystems sind. Die Unabhängigkeit der Verfassungsorgane des Staates, des Verfassungsgerichts, des Landesjustizrats, des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts, wurde dauerhaft eingeschränkt oder aufgehoben, indem diese mit parteitreuen Personen besetzt wurden. Die weitestgehenden Verstöße gegen den Rechtsstaatsgrundsatz fanden im Bereich der Unabhängigkeit der Gerichte statt, sowie in der extremen Politisierung von Staatsanwaltschaft und Polizei. Teil des demokratischen Rückschritts in Polen war auch die Missachtung der Urteile internationaler Gerichte (EuGH und EGMR), was letztlich die Prinzipien der Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union und im Europarat in Frage stellte.

Der Niedergang der Rechtsstaatlichkeit in Polen verlagerte sich sehr schnell von der nationalen auf die internationale Ebene. Polen wurde in der EU isoliert und stand in verschiedenen Foren in ernsthaften Konflikten mit vielen Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission. Infolgedessen kam es zu einem Rückzug von dem, was als europäische Rechtskultur bezeichnet werden kann, und Polen wurde zu einem undemokratischen Staat mit Merkmalen eines autoritären Staates.

Worin besteht das Problem der Gesetzgebungsunfähigkeit in Polen?

Das Recht wurde und wird – nicht nur in Polen oder Ungarn – als Maske zur Erreichung bestimmter politischer Ziele und Absichten genutzt. Dieses Phänomen ist praktisch in jedem EU-Land bekannt. Wenn es jedoch Mechanismen, rechtliche Verfahren und unabhängige Verfassungsorgane gibt, die die Rechtsstaatlichkeit wahren, werden politische Versuche, das Staatssystem zu dominieren, außerhalb des Rechtsrahmens gestellt.

In Polen kam es jedoch nach der Abwahl der PiS-geführten Regierung und der Vereidigung der Koalition um den alten und neuen Ministerpräsidenten Donald Tusk im Januar dieses Jahres zu einem legislatorischen Stillstand. Die fehlende Unterstützung des Präsidenten Andrzej Duda, ein Parteiloyalist der PiS, ohne den in Polen kein Gesetz erlassen oder geändert werden kann, sowie die politischen Bestellungen des Verfassungsgerichts aus der vorherigen Regierungszeit lähmen nun die Gesetzgebung. In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint dies als Ineffektivität der Regierung, die aus für die Gesellschaft unverständlichen Gründen ihre Wahlversprechen nicht einhält.

Es gibt viele Beispiele, angefangen bei der Stagnation bei der Rücknahme der Justizreformen aus den Jahren 2015-2023 bis hin zum Versäumnis, angekündigte soziale Reformen, wie die Liberalisierung des Abtreibungsrechts oder die Einführung des Rechts auf eingetragene Partnerschaften – einschließlich gleichgeschlechtlicher Partnerschaften – umzusetzen. Einerseits werden viele Gesetze durch das Präsidentenveto und die Eingriffe des politisierten Verfassungsgerichts blockiert, andererseits resultiert ein Teil der "Gesetzgebungsunfähigkeit" aus dem komplizierten politischen Profil der regierenden Koalition. Derzeit besteht die Regierung aus zentristischen, konservativen und linken Parteien. Wie das Beispiel Polen zeigt, kann eine Partei, die die Macht verliert, ihre politischen Einflüsse erhalten, wenn sie das Verfassungsgericht und teilweise auch andere Gerichte kontrolliert und zusätzlich einen "eigenen" Präsidenten hat.

Das Präsidenten-Veto als größte Hürde

Die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen ist ein komplexes Unterfangen und setzt voraus, dass zunächst die nicht rechtsstaatlichen Regelungen aus dem System entfernt werden. Das Erbe der Jahre 2015-2023, also des antidemokratischen und antieuropäischen Zeitraums, hat sich tief und dauerhaft im polnischen Recht verankert, in den Strukturen der öffentlichen Verwaltung, im Justizwesen und in der Art und Weise, wie das Recht interpretiert und angewendet wird, einschließlich der Verpflichtungen aus der EU-Mitgliedschaft. Dies erschwert der neuen Regierung, umfassende und wirksame Reformen durchzuführen. Der Präsident steht in offenem Konflikt mit Premierminister Tusk und hat sich, neben dem Verfassungsgericht, zu einem der Hauptblockierer im Gesetzgebungsprozess entwickelt. Wie angekündigt, legt er ein Veto gegen jedes Gesetz ein, das die Justiz betrifft.

Diese Gesetzgebungsunfähigkeit führt dazu, dass Veränderungen in den für die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit wichtigsten Fragen auf eine Änderung der politischen Situation warten müssen. Dazu gehören: die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts und die Wiedereinsetzung der Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen, die Reform des Nationalen Justizrats, die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz sowie die Entpolitisierung der Staatsanwaltschaft. Im Hinblick auf die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit verbleiben also im Wesentlichen nicht-legislative Maßnahmen. 

Dieser Zustand wird bis zur Präsidentschaftswahl im Herbst 2025 anhalten. Es wird angenommen, dass die Wahl der Polen und Polinnen im Jahr 2025 auf eine Person aus einer der demokratischen Parteien und nicht auf einen weiteren Loyalisten der PiS fallen wird. Dies ist der Stand der Dinge in Polen im Jahr 2024: Es ist eine Zeit des Wartens, der Brandbekämpfung und der Ankündigungen von Veränderungen, ohne diese umzusetzen, sowie einzelner Abrechnungen mit Politikern, die in den Jahren 2015-2023 ihre Macht missbraucht haben. Bis zur Präsidentschaftswahl bleiben damit nur mehrdimensionale, mehrstufige Maßnahmen, die unter Einsatz verschiedener rechtlicher und politischer Mittel durchgeführt werden, wobei diese grundsätzlich innerhalb der Grenzen des Rechts liegen sollen. Das ist jedoch schwierig und manchmal unmöglich, da legalistische Ansätze auf eine rein politische Landschaft und den Kampf um Macht und Einfluss stoßen.

Alles wartet auf 2025

In der Praxis im Jahr 2024 zeigt sich daher, dass zwar legale, aber eher "zweitrangige" Maßnahmen ergriffen werden. Betrachtet man die bisherigen Maßnahmen der Regierung und des Parlaments, so sind die effektivsten – weil sie den Präsidenten umgehen – nicht-legislative Maßnahmen. Die wichtigsten Instrumente der Macht liegen in diesem Bereich beim Justizminister Adam Bodnar.

Dieser hat bspw. Führungskräfte in Justiz und Staatsanwaltschaft ausgetauscht, Gerichtspräsidentinnen und -präsidenten und politisierte Disziplinaranwältinnen und -anwälte abberufen, die von der vorherigen Regierung ernannt worden waren. Diese Maßnahmen haben das Klima in den Gerichten verändert und die Repressionen gegen Richterinnen und Richter beendet, die die Rechtsstaatlichkeit verteidigt und das europäische Recht angewendet haben. Dies war auch eine der Grundvoraussetzungen für die Entsperrung des Nationalen Wiederaufbauplans (KPO) und die Zustimmung der Europäischen Kommission zur Auszahlung von Hilfsgeldern im Rahmen von Hilfs- und Strukturprogrammen.

Der Umfang der wünschenswerten (legislativen) und möglichen (nicht-legislativen) Maßnahmen ist in einem "Action Plan" enthalten, der unter anderem eine umfassende Reform des Justizsystems in Polen vorsieht. Es geht dabei vor allem um die Novellierung der Gesetze: zum Nationalen Justizrat, zum Obersten Gericht, zum Verfassungsgericht, des sogenannten Maulkorbgesetzes (d.h. drakonischer Vorschriften zur disziplinarischen Verantwortlichkeit von Richterinnen und Richtern), der Staatsanwaltschaft sowie um die Lösung der Frage der sogenannten Neo-Richterinnen und -Richter. Dies sind Personen, die unter Mitwirkung des illegalen Nationalen Justizrats (KRS), dessen Status von EuGH und EGMR sowie dem Obersten Gericht in Frage gestellt wurde, in das Justizsystem gelangten. Nachdem Justizminister Bodnar im Februar seinen Reformplan vorgelegt hatte, wurde das Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Polen im Mai 2024 beendet.

Die Regierungskoalition hat bereits zehn Gesetzentwürfe vorbereitet. Auch wenn deren Umsetzung ohne die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten praktisch unmöglich ist, bleibt die Arbeit an ihnen sinnvoll, da sie sowohl symbolische und imagefördernde als auch praktische Effekte haben. Sie ermöglichen jetzt Kompromisse, um legislative Anträge unter neuen politischen Bedingungen nach den Präsidentschaftswahlen 2025 reibungslos durchzuführen. In den kommenden Monaten sollten in Polen daher ernsthafte systemische Rekonstruktionen in allen Bereichen des Justizwesens in Angriff genommen werden.

Prof. Dr. Robert Grzeszczak ist Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Warschau, Experte für Europarecht, Völkerrecht und Verfassungsrecht; Vorsitzender des Ausschusses für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Gastkommentar von Prof. Dr. Robert Grzeszczak, 9. August 2024.