Neuauszählung nach BSW-Klage? "Man kann nicht einfach sagen: Mir passt das nicht, zählt nochmal"
© Jochen Müller / HHU

Das BSW zieht gegen die Auszählung der Bundestagswahl vor das BVerfG – mit einer durchaus kreativen Begründung. Die Staatsrechtslehrerin Sophie Schönberger erklärt im Interview, welche Chancen das Unterfangen hat und wann mit einer Entscheidung aus Karlsruhe zu rechnen ist.

beck-aktuell: Frau Professorin Schönberger, am Dienstag kam die Nachricht, dass das BSW gegen die Bundestagswahl vor das BVerfG zieht. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um eine Wahlprüfungs-, sondern um eine Verfassungsbeschwerde. Ist das überhaupt das richtige Instrument, um eine Neuauszählung der Stimmen zu erreichen, wie es das BSW begehrt?

Schönberger: Jein. Das, was die Partei erreichen möchte, ist gesetzlich nicht vorgesehen. Schließlich rügt die Partei keine konkreten Wahlfehler, sondern sagt einfach: Das ist alles ein bisschen verdächtig, bitte zählt doch nochmal nach. Das ist weder im BWahlG noch in der BWahlO vorgesehen und wäre auch nicht mit der Wahlprüfungsbeschwerde zu erreichen. Deswegen legen sie jetzt eine Verfassungsbeschwerde ein, gestützt auf den Vorwurf, der Gesetzgeber hätte eine solche Möglichkeit der Nachzählung vorsehen müssen.

"Wenn es irgendwelche Zweifel gibt, wird nochmal nachgezählt"

beck-aktuell: Ihr Staatsrechtler-Kollege Christoph Degenhart, einer der Vertreter des BSW, hat erklärt, der knappe Wahlausgang mache eine umfassende Überprüfung noch vor Feststellung des amtlichen Endergebnisses erforderlich. Was lässt sich daraus für die Begründung der Verfassungsbeschwerde ableiten?

Schönberger: Ich finde die Aussage etwas irritierend, weil sie insinuiert, dass die Auszählung nicht geprüft würde. Aber dem ist nicht so. Es gibt Vorschriften im BWahlG und in der BWahlO, wonach das alles geprüft wird. Die Wahlvorstände und die ehrenamtlichen Wahlhelfer zählen aus, dann geht es zu den Kreiswahlausschüssen und die überprüfen es noch einmal. Und wenn es irgendwelche Zweifel gibt, dann zählen sie noch einmal nach. Es gibt nur nicht die Möglichkeit zu sagen: Mir passt das Ergebnis nicht oder es ist mir zu knapp, bitte überprüft doch nochmal alles. Man braucht schon konkrete Anhaltspunkte.

beck-aktuell: Wenn man das Argument des BSW zuspitzt, verklagt die Partei also den Gesetzgeber, weil es gerade keine rechtliche Handhabe hat.

Schönberger: Das ist genau der Punkt. Man sagt: Wir würden gerne nachzählen lassen, dafür gibt das geltende Recht aber nichts her. Deshalb wirft die Partei nun dem Gesetzgeber vor, er habe es versäumt, eine Grundlage für einen solchen Nachzählungsanspruch vorzusehen.

"Das wird dem BVerfG nicht reichen"

beck-aktuell:Das BSW hat den Einzug in den Bundestag denkbar knapp verpasst, am Ende fehlten rund 13.400 Stimmen. Zunächst hat sie behauptet, Auslandswählerinnen und -wähler hätten ihre Stimmzettel nicht rechtzeitig erreicht. Nun stützt sie sich auf vereinzelte Fehler, wo Stimmen falsch zugeordnet oder nicht gezählt worden seien. Unter anderem sollen bei einer Neuauszählung in zwölf Berliner Wahllokalen zwei zusätzliche BSW-Stimmen gefunden worden sein. Glauben Sie, dass solche Einzelfälle dem BVerfG reichen könnten, um eine Neuauszählung anzuordnen?

Schönberger: Ich bin davon überzeugt, dass das nicht der Fall sein wird, denn es handelt sich nicht etwa um Stichproben, sondern man hat dort nachgeprüft, wo es konkrete Anhaltspunkte für Fehler gab. Und dann ist es natürlich kein Wunder, wenn bei der Überprüfung herauskommt, dass tatsächlich nicht korrekt gezählt worden ist. Das ist aber etwas anderes, als Stichproben zu machen, bei denen man wahrscheinlich zu ganz anderen Ergebnissen kommen würde. 

In der Tat kann es bei einem solchen Massenverfahren wie der Bundestagswahl im Einzelfall immer zu kleineren Fehlern kommen, doch wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass es großflächig Fehler gegeben hätte. Die Argumentation des BSW stellt den Wahlvorgang als solchen infrage, indem sie insinuiert, es würden systematisch Fehler zulasten des BSW begangen.

"Nachzählungen beeinträchtigen die Rechte der Wählerinnen und Wähler"

beck-aktuell: Was halten Sie vom Argument von Sahra Wagenknecht, der Respekt vor den Wählerinnen und Wählern gebiete es, "mögliche Fehler genau zu prüfen und zu korrigieren"?

Schönberger: Wenn etwas angreifbar wäre, dann hätte man das auch bei den Kreiswahlausschüssen vortragen können. Oder man könnte es im Wege der Wahlprüfungsbeschwerde vortragen. Umgekehrt würde ich sagen, der Respekt vor den Wählern gebietet es gerade, nicht einfach auf Verdacht alles in Frage zu stellen und so zu tun, als gäbe es massive Probleme bei der Wahl. 

Zudem gibt es noch ein anderes Problem: Würden Nachzählungen angeordnet, würde das die Öffentlichkeit der Wahl und damit auch die Rechte der Wählerinnen und Wähler massiv beeinträchtigen. Denn die Auszählung am Wahltag ist ein öffentlicher Vorgang, auf den sich alle Bürgerinnen und Bürger einstellen können. Sie findet an einem Sonntagabend statt, wenn die meisten Interessierten Zeit haben, sie zu verfolgen. Müsste man nun unter immensem Zeitdruck – die Konstituierung des neuen Bundestags steht ja unmittelbar bevor – alles noch einmal nachzählen, würde die Öffentlichkeit zwar formal hergestellt, könnte aber von kaum jemandem wahrgenommen werden, weil man nicht alles auf einen Sonntagabend verschieben könnte. Wir hätten dann eine Beeinträchtigung eines anderen sehr wichtigen Wahlrechtsgrundsatzes, und zwar aufgrund eines bloßen Verdachts.

beck-aktuell: Sie sprechen den Zeitdruck an. Christoph Degenhart fordert, eine Überprüfung müsse auf jeden Fall vor der Feststellung des amtlichen Endergebnisses geschehen. Was würde denn dieser Zeitpunkt für die Verfassungsbeschwerde des BSW bedeuten?

Schönberger: Die würde sich zwar nicht erledigen, da es ja um die Grundrechtsverletzung durch gesetzgeberisches Unterlassen geht. Aber für den konkreten Fall dieser Bundestagswahl greift spätestens ab dem Zeitpunkt, in dem das amtliche Endergebnis feststeht, der Vorrang des Wahlprüfungsverfahrens. Diese Wahl wäre dann nur noch mit dem Wahlprüfungsverfahren angreifbar, was dann erst einmal zum Bundestag und danach zum BVerfG gelangen müsste.

"Das würde sicherlich ein paar Monate dauern"

beck-aktuell: Im Fall der Wahl 2021, als in Berlin noch einmal neu ausgezählt werden musste, stand dies erst mehr als zwei Jahre später fest. Damals war jedoch klar, dass die Entscheidung an der grundsätzlichen Zusammensetzung des Bundestags nichts mehr ändern würde. Da nun im Fall des BSW eine erhebliche Auswirkung auf die Machtarithmetik im Bundestag im Raum steht, stellt sich aber die Frage, wie lange ein etwaiges Prüfungsverfahren dauern dürfte?

Schönberger: Das zeitliche Problem liegt in erster Linie beim Bundestag, denn dieser ist nach dem Grundgesetz für Wahlprüfungsbeschwerden zuständig und muss erst einmal entscheiden. In aller Regel wird das eine Weile dauern. Wie lange das BVerfG schließlich braucht, hängt auch davon ab, wie es die Erfolgsaussichten einschätzt.

Es gibt nach jeder Wahl eine sehr große Zahl von Wahlprüfungsbeschwerden. Diejenigen, die offensichtlich unbegründet sind, lässt das BVerfG auch mal eine Weile liegen. Bei prominenten Fällen, die viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit bekommen, versucht das Gericht in der Tendenz, diese schnell zu behandeln – gerade auch, um das Vertrauen in die Wahl zu wahren. Doch selbst wenn man das Verfahren beschleunigen würde, würde man sicherlich ein paar Monate brauchen.

beck-aktuell: Frau Professorin Schönberger, ich danke Ihnen für das Gespräch!


Prof. Dr. Sophie Schönberger ist Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf.

Die Fragen stellte Maximilian Amos.

Das Gespräch ist auch in der neuen Folge 45 von "Gerechtigkeit & Loseblatt - Die Woche im Recht", dem Podcast von NJW und beck-aktuell, zu hören.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 13. März 2025.

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