Noch nie hat eine Partei den Einzug in den Deutschen Bundestag so knapp verpasst wie das erst im vergangenen Jahr gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Die in § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG geregelte Sperrklausel von fünf Prozent kennt weder eine Rundung noch einen Anfängerbonus, weshalb Sahra Wagenknecht trotz beachtlicher 4,97% für das BSW aus dem Stand nicht mehr im Bundestag sitzen wird. In den 20. Deutschen Bundestag war sie noch als Abgeordnete der Linken eingezogen.
In ihrer Pressekonferenz am Tag nach der Wahl deutete Wagenknecht nun mögliche rechtliche Schritte gegen die Bundestagswahl an. Dabei brachte sie gleich eine ganze Reihe möglicher Anfechtungsgründe ins Spiel. Insbesondere bezog sie sich auf vermeintliche Schwierigkeiten von Auslandsdeutschen, ihre Briefwahlstimme rechtzeitig bis zum Wahlsonntag nach Deutschland zu schicken. Daneben verwies Wagenknecht aber auch auf die hohen Hürden für Parteigründungen. Dem Umfrageinstitut Forsa unterstellte sie "eine gezielte Aktion zur Manipulation von Wahlverhalten", weil es das BSW in seiner letzten Umfrage vor der Wahl "auf drei Prozent heruntergesetzt" habe. Konkrete Schritte kündigte Wagenknecht zwar noch nicht an, erklärte aber, sich zur Gültigkeit der Wahl mit Juristen beraten zu wollen.
Gab es einen Wahlfehler?
Voraussichtlich dürften diese Beratungen ernüchternd ausfallen. Zwar kann jeder Wahlberechtigte gemäß Art. 41 GG mit Wahleinspruch und Wahlprüfungsbeschwerde die Gültigkeit der Bundestagswahl einer rechtlichen Prüfung zunächst durch den Bundestag und dann durch das BVerfG zuführen. Die Erfolgsaussichten dürften in diesem Fall aber gering sein.
Wann eine Wahlprüfungsbeschwerde begründet ist, beantwortet Art. 41 GG nicht. Das materielle Wahlprüfungsrecht ist zumindest auf Bundesebene rein richterrechtlich entwickelt. Das BVerfG verlangt drei Voraussetzungen: Zunächst muss ein Wahlfehler vorliegen. Das können insbesondere Verstöße gegen das BWahlG und die BWahlO sowie eine Verletzung der Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sein. Dieser Wahlfehler muss zudem mandatsrelevant geworden sein. Nach dem Grundsatz der potenziellen Kausalität ist dafür die nicht nur theoretische, sondern nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit erforderlich, dass der Wahlfehler Einfluss auf die Sitzverteilung im Parlament hatte. Schließlich genießt nach Ansicht des BVerfG selbst die fehlerhaft gewählte Volksvertretung einen Bestandsschutz, sodass die Schwere des Wahlfehlers mit dem Bestandsinteresse des Parlaments abzuwägen ist.
Abschreckungswirkung der Sperrklausel: Problematisch, aber nicht ausreichend
Der Streit um die Vereinbarkeit der Sperrklausel mit der Wahlrechtsgleichheit gehört zum Traditionsgut deutschen Wahlverfassungsrechts. Zumindest auf Bundesebene hat das BVerfG die Sperrklausel aber stets gebilligt. In seinen frühen Entscheidungen aus den 1950er-Jahren findet sich dabei ein offen kritischer Unterton zu kleineren Gruppen, denen das Gericht unterstellt, kein am Gesamtwohl orientiertes Programm zu haben (BVerfGE 6, 84 [92]). In seiner jüngsten Bestätigung der Sperrklausel belässt es das Gericht im Wesentlichen bei Hinweisen auf die eigene Rechtsprechung.
Wagenknecht verwies vor allem – auch im Zusammenhang mit der von ihr kritisierten Forsa-Umfrage – darauf, dass die Sperrklausel Wähler davon abschrecken könnte, eine neue Partei wie das BSW zu wählen, um die eigene Stimme nicht zu verschenken. In den Politikwissenschaften wird dies als psychologische Wirkung der Sperrklausel diskutiert (vgl. etwa Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 8. Aufl. 2023, S. 69 f.). Ein solcher Effekt ist plausibel, bisher empirisch aber eher spärlich belegt. Der streitbare Parteienrechtler Hans Herbert v. Arnim wandte sich schon 2014 mit einer Wahlprüfungsbeschwerde gegen die psychologische Wirkung der Sperrklausel – und scheiterte. Das BVerfG hielt insbesondere die Einführung einer Ersatzstimme – Zweitpräferenz, falls die Erstpräferenz keine fünf Prozent erreicht – für verfassungsrechtlich nicht geboten, sondern eher problematisch (BVerfGE 146, 327, Rn. 80 f.).
Allerdings könnte ein Wahlfehler darin liegen, wenn ein führendes Umfrageinstitut ganz bewusst Umfragewerte herabsetzt, um die psychologische Wirkung der Sperrklausel gegen eine Partei auszuspielen. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG können in Ausnahmefällen auch Wahlbeeinflussungen durch Privatpersonen wahlfehlerhaft sein. Dies würde selbstverständlich voraussetzen, dass sich Wagenknechts Andeutungen, es habe sich bei der Forsa-Umfrage um gezielte Manipulation gehandelt, beweisen ließe. Da die BSW-Parteichefin hierfür keinerlei konkrete Belege anführen konnte, dürfte es sich um eine bloße Behauptung ins Blaue hinein handeln. Damit begibt sich Wagenknecht auch äußerungsrechtlich auf dünnes Eis.
Deutsche im Ausland: Was, wenn die Post nicht schnell genug ist?
Was ist nun mit dem Einwand, dass Auslandsdeutsche ihre Stimme nicht rechtzeitig abgeben konnten? Das Wahlrecht der Auslandsdeutschen ist umstritten: Obwohl der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl richtigerweise ein umfassendes Wahlrecht auch für Auslandsdeutsche verlangt, lässt das BVerfG zu, sie vom Wahlrecht auszuschließen. Der Gesetzgeber hat sich indes für eine differenzierte Regelung entschieden: Nach § 12 Abs. 2 BWahlG bleiben Deutsche zumindest dann in Deutschland wahlberechtigt, wenn sie zwar ins Ausland ziehen, der Wegzug aus Deutschland aber nicht länger als 25 Jahre zurückliegt. Diese gesetzgeberische Entscheidung gilt, sodass eine Verletzung des Wahlrechts Auslandsdeutscher – etwa durch Organisationsfehler – einen Wahlfehler darstellen kann.
Die genauen organisatorischen Anforderungen sind bisher aber nur für die Urnenwahl im Inland weitgehend geklärt. Die Wahl von Auslandsdeutschen ist demgegenüber mit besonderen organisatorischen Herausforderungen verbunden. Anders als etwa in Frankreich, wo im Ausland lebende Bürgerinnen und Bürger in eigenen Auslandswahlkreisen wählen, nehmen Deutsche ihr Wahlrecht dort wahr, wo sie zuletzt in Deutschland gemeldet waren (§ 17 Abs. 2 Nr. 5 BWahlO). Auslandsdeutsche müssen dazu in ihrer Heimatgemeinde die Eintragung ins Wählerverzeichnis beantragen (§ 16 Abs. 2 BWahlO). Danach können sie vor Ort in Deutschland wählen. In der Regel werden sich Auslandsdeutsche aber für die Briefwahl entscheiden. Bei langen Postlaufzeiten kann es dann passieren, dass sie faktisch an der Stimmabgabe gehindert werden, weil der Wahlschein nicht rechtzeitig aus Deutschland hin- und mit der Briefwahl wieder zurückwandert. Dieses Risiko war bei der aktuellen Wahl erhöht, weil der Bundestag nach seiner vorzeitigen Auflösung durch den Bundespräsidenten innerhalb von sechzig Tagen neu gewählt werden musste (Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG).
Was muss der Staat tun, um Wahlunterlagen rechtzeitig zuzustellen?
Die kurzen Fristen sind aber schon deshalb kein tauglicher Angriffspunkt für eine Wahlprüfungsbeschwerde, weil sie vom GG selbst so vorgesehen sind. Wünschenswert wäre dagegen eine Klärung durch die Rechtsprechung, wie weit Organisationspflichten reichen, um die Briefwahl aus dem Ausland tatsächlich zu ermöglichen. Einerseits kann der deutsche Staat keine Garantie für internationale Postläufe übernehmen. Andererseits werden alle deutschen (Wahl-)Behörden das in ihrer Macht Stehende unternehmen müssen, um eine rechtzeitige Übermittlung der Wahlunterlagen zu ermöglichen. In diesem Sinne stellt das Auswärtige Amt übrigens seinen diplomatischen Kurierdienst zur Verfügung, um die Wahlbriefe zu transportieren.
Hingegen ermöglicht die Bundesrepublik – anders als andere Länder – keine Urnenwahl in den Auslandsvertretungen. Dazu dürfte sie auch nicht verpflichtet sein, denn nach dem gegenwärtigen System – Wahl in der Heimatgemeinde – verstieße die Botschaftswahl gegen den Grundsatz der geheimen Wahl, weil die ausgezählten Stimmen den jeweiligen Heimatstimmbezirken zugeordnet werden müssten. Überdies ist eine Urnenwahl in Auslandsvertretungen völkerrechtlich von der Zustimmung des Gastgeberlandes abhängig, was zu weiteren Ungleichbehandlungen führen könnte.
Die Frist für den Wahleinspruch hat am Montag nach der Wahl begonnen und beträgt zwei Monate (§ 2 Abs. 4 WahlPrüfG). Natürlich ist denkbar, dass in dieser Zeit Wahleinsprüche einzelne Organisationsmängel aufdecken, etwa wenn Gemeinden Wahlscheine erst "auf den letzten Drücker" ins Ausland verschickt haben. Dass solche Verstöße zur Wahlwiederholung führen, ist aber unwahrscheinlich. Denn das BVerfG handhabt das Kriterium der Mandatsrelevanz streng. Anders als der VerfGH Berlin, der im Wahlprüfungsverfahren gegen das Berliner Wahlchaos 2021 die gesamte Abgeordnetenhauswahl wiederholen ließ, beharrte das BVerfG für die Bundestagswahl auf einer fallweisen Betrachtung von Wahlbezirk zu Wahlbezirk. Nach den Karlsruher Maßstäben genügt es daher keinesfalls, wenn nachgewiesen würde, dass einzelne Auslandsdeutsche wegen Organisationsmängeln ihre Stimme nicht abgeben konnten. Nicht einmal 13.435 Einsprüche von Auslandsdeutschen – so viele Stimmen fehlten dem BSW zum Einzug – würden der Partei wohl unter dem Strich weiterhelfen. Wiederum anders als der Berliner VerfGH rechnet das BVerfG für die Mandatsrelevanz nämlich das Wahlergebnis in gewissem Maße hoch und würde zu dem Schluss kommen, dass nicht jeder an der Wahl gehinderte Auslandsdeutsche BSW gewählt hätte.
Prof. Dr. Matthias Friehe ist Qualifikationsprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Oestrich-Winkel.