Einmaliger Vorgang in der Geschichte der Wahlen
Die Präsidentin des VerfGH, Ludgera Selting, machte in der Urteilsbegründung deutlich, dass sich der VerfGH der Tragweite der Entscheidung durchaus bewusst sei. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass es sich um einen einmaligen Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland handele. Nur durch die vollständige Wiederholung der Wahl könne eine Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen gewährleistet werden, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen an demokratische Wahlen entspreche. Die Entscheidung ist mit einer Mehrheit von sieben zu zwei Stimmen getroffen worden.
Wahlen jeweils teilweise in unterschiedlichem Umfang angefochten
Gegenstand des Wahlprüfungsverfahren waren Einsprüche der Landeswahlleitung, der Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport sowie der politischen Parteien AfD und Die Partei. Die Einsprechenden hatten die Wahlen jeweils teilweise – in unterschiedlichem Umfang – angefochten.
VerfGH: Komplette Ungültigkeitserklärung erforderlich
Nach umfassender Auswertung aller 2.256 Protokolle aus sämtlichen Berliner Wahllokalen, der von der Landeswahlleitung zur Verfügung gestellten Daten sowie Prüfung der rund hundert Schriftsätze der insgesamt über 3.000 Verfahrensbeteiligten gelangte der VerfGH zu der Überzeugung, dass verfassungsrechtliche Standards nur durch die komplette Ungültigkeitserklärung der Berliner Wahlen gewährleistet werden können.
Punktuelle Wahlwiederholung keine Alternative
Schon die Vorbereitung der Wahlen stellt nach Ansicht des VerfGH für sich genommen einen Wahlfehler dar, der weitere erhebliche Wahlfehler nach sich gezogen habe. Damit sei in mehrfacher Hinsicht gegen die in der Berliner Verfassung niedergelegten Wahlgrundsätze verstoßen worden. Die Wahlfehler seien auch mandatsrelevant. Eine nur punktuelle Wahlwiederholung in einzelnen Wahlkreisen wäre angesichts der Vielzahl und Schwere der Wahlfehler nicht geeignet, einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen, betonte der VerfGH.
Bundestagswahl nicht betroffen
Gemäß § 21 Abs. 1 Landeswahlgesetz (LWahlG) müssen die Wahlen nun in ganz Berlin wiederholt werden. § 21 Abs. 3 S. 1 LWahlG sieht hierfür eine Frist von 90 Tagen vor. Die Wahlen zum Bundestag in Berlin sind davon aber nicht betroffen. Hierüber wird auf Bundesebene in einem eigenen, gesondert geregelten Verfahren entschieden.
Falsche Prognose zu Kapazität der Wahllokale
Nach Ansicht des VerfGH sind die Mängel bei der Vorbereitung der Wahl ursächlich für weitere Wahlfehler am Tag der Abstimmung. So hätten die von der Landeswahlleitung angestellten Prognosen zur Dauer der Wahlhandlung (drei Minuten) bei der tatsächlich zur Verfügung stehenden Anzahl von Wahlkabinen (durchschnittlich 2,36 pro Wahllokal) gemessen an der gesetzlich vorgeschriebenen Wahlzeit (von 8.00 bis 18.00 Uhr) rechnerisch dazu geführt, dass pro Wahllokal lediglich 472 Personen in Präsenz wählen konnten. Bei einer angesichts von insgesamt sechs abzugebenden Stimmen auf fünf Stimmzetteln weitaus realistischeren zeitlichen Prognose von fünf Minuten hätten durchschnittlich sogar nur 283 Wahlberechtigte in einem Wahllokal ihre Stimme abgeben können. Tatsächlich seien am 26.09.2021 jedoch in jedem Wahllokal durchschnittlich 1.085 Personen wahlberechtigt gewesen (in Pankow sogar durchschnittlich 1.312 Personen). Angesichts dieser hohen Zahl der Wahlberechtigten pro Wahllokal war eine ordnungsgemäße Wahl nach Ansicht des VerfGH nicht mehr gewährleistet.
Verfassungsrechtlicher Anspruch auf Wahl in Präsenz
Denn schon nach der unrealistischen, weil angesichts der Komplexität der Wahlen zu kurz bemessenen Prognose der Landeswahlleitung hätten damit nur 40% der Wahlberechtigten die realisierbare Möglichkeit gehabt, zur Urne zu gehen. Unter Zugrundelegung einer realistischeren zeitlichen Prognose hätten sogar weit weniger Wahlberechtigte die Möglichkeit gehabt, ihre Stimme im Wahllokal abzugeben, nämlich nur 26%. Auf die Wahl in Präsenz habe aber jede und jeder Wahlberechtigte einen verfassungsmäßigen Anspruch.
Faktischer Ausschluss von Wählern durch Ausgabe falscher Stimmzettel
Obwohl im Vorfeld der Wahl bekannt geworden sei, dass im Zuge des Druckprozesses Stimmzettel vertauscht worden waren, sei dies nicht in allen Bezirken überprüft worden, monierte der VerfGH weiter. Dies habe dazu geführt, dass am Wahltag in mindestens fünf von zwölf Bezirken falsche Stimmzettel, also für einen anderen Wahlkreisverband beziehungsweise Wahlkreis vorgesehene Stimmzettel, ausgegeben worden seien. Die auf falschen Stimmzetteln abgegebenen Stimmen seien ungültig. Faktisch seien die betroffenen Wählerinnen und Wähler damit von der Wahl ausgeschlossen worden.
Stimmzettel können nicht einfach kopiert werden
Ferner hätten einige Bezirkswahlämter entgegen § 42 Landeswahlordnung (LWO) den Wahlvorständen vorab nicht alle benötigten Stimmzettel ausgehändigt, sodass die betroffenen Wahllokale unterversorgt gewesen seien. Bei der Nachbelieferung sei es zu erheblichen Verzögerungen gekommen. Einige Wahllokale hätten daraufhin zwischenzeitlich geschlossen, ohne dass für die wahlwilligen Wartenden erkennbar gewesen wäre, wann mit einer erneuten Öffnung zu rechnen sei. In anderen Wahlkreisen seien Kopien von Stimmzetteln angefertigt worden. Diese seien als ungültig zu werten, da sie nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprächen. Die betroffenen Bezirkswahlämter hätten noch nicht einmal Angaben zur Anzahl der ausgehändigten Kopien machen können, kritisiert der VerfGH.
Öffnung der Wahllokale über 18.00 Uhr hinaus problematisch
Auch die dokumentierten, oft stundenlangen Wartezeiten vor den Wahllokalen und die aufgrund der zur Verfügung stehenden Zahlen errechneten gesetzeswidrigen Schließungen von Wahllokalen während der Wahlzeit (insgesamt 6.294 Minuten) sowie die ebenfalls exakt bezifferbare flächendeckende Öffnung der Wahllokale über 18.00 Uhr hinaus (insgesamt 21.941 Minuten) seien Folge dieser mangelhaften Vorbereitung gewesen. Der Umstand etwa, dass flächendeckend noch nach 18.00 Uhr gewählt wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon erste Prognosen auf Grundlage von Nachwahlbefragungen veröffentlicht worden waren und sich ein "Kopf-an-Kopf-Rennen" abzeichnete, habe die betroffenen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger in ihren verfassungsrechtlich garantierten Rechten zur Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess verletzt.
Grundsätze der Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verletzt
Aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten stehe damit fest, dass nicht nur einzelne, sondern tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten, betonte der VerfGH. Damit seien die in der Verfassung des Landes Berlin festgelegten Grundsätze der Freiheit, der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl verletzt.
Wahlfehler auch mandatsrelevant
Diese schwerwiegenden Wahlfehler seien auch mandatsrelevant, das heißt es bestehe die konkrete Möglichkeit, dass sich die festgestellten Wahlfehler auf die Sitzverteilung ausgewirkt haben könnten. Zwar sei die Gesamtanzahl der von Wahlfehlern betroffenen Stimmen nicht mathematisch präzise zu ermitteln. So sei es etwa unmöglich herauszufinden, wie viele Wahlberechtigte angesichts der Aussichtslosigkeit der Stimmabgabe wieder nach Hause gegangen sind. Die von Wahlfehlern betroffenen Stimmen lassen sich nach den Ausführungen des VerfGH aber näherungsweise ermitteln, indem man die Anzahl der dokumentierten Wahlfehler zusammenzählt: die nachweislich nicht ausgegebenen Stimmzettel (3.910 Stimmzettel für die Erststimme und 1.546 Stimmzettel für die Zweitstimme), die falschen Stimmzettel (1.939 Stimmzettel für die Erststimme und 2.063 Stimmzettel für die Zweitstimme), die kopierten und damit als ungültig zu wertenden Stimmzettel (laut Aussagen des betroffenen Bezirkswahlamtes Friedrichshain-Kreuzberg "mehrere tausend"), die Dauer der Unterbrechungen der Wahlhandlungen (6.294 Minuten) und die Gesamtdauer der nach 18.00 Uhr geöffneten Wahllokale (21.941 Minuten).
20.000 bis 30.000 Stimmen von Wahlfehlern betroffen
Daraus ergebe sich, dass mindestens 20.000 bis 30.000 Stimmen von Wahlfehlern betroffen seien. Die Ungewissheit, wie sich diese 20.000 bis 30.000 Stimmen bei einem ordnungsgemäßen Wahlablauf verteilt haben könnten, führt nach Überzeugung des VerfGH zu einer Vielzahl von Möglichkeiten, wie sie die Sitzverteilung beeinflusst haben könnten. Denn anders als zum Teil von Verfahrensbeteiligten vorgetragen, erfordere die Feststellung der Mandatsrelevanz nach § 40 Abs. 2 Nr. 8 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof (VerfGHG) keinen Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse, sondern einen Einfluss auf die Sitzverteilung. In einigen Wahlkreisen hätten schon dreistellige Zahlen anders abgegebener Stimmen ausgereicht, um die Sitzverteilung zu verändern.
Korrekturinteresse überwiegt
Die auf der Rechtsfolgenseite zu treffende Abwägung zwischen dem Bestandsinteresse eines einmal gewählten Parlaments und dem Korrekturinteresse auf der anderen Seite führt nach Überzeugung des VerfGH zu einem Überwiegen des Korrekturinteresses. Denn nur so könne das verfassungsrechtlich garantierte Wahlrecht der wahlberechtigten Berlinerinnen und Berliner und damit auch die rechtmäßige Zusammensetzung des von ihnen gewählten Parlaments garantiert werden.
Organisationsverschulden der zuständigen Behörden
Hierbei habe der VerfGH insbesondere auch berücksichtigt, dass die Wahlfehler nicht durch unvorhergesehene Umstände wie etwa eine Naturkatastrophe oder eine Sabotage bedingt gewesen sind. Vielmehr hätten sie ihre Ursache in einem Organisationsverschulden der für die Wahlen zuständigen Behörden des Landes Berlin. Zwar unterscheide sich der Umfang potentiell betroffener Zweitstimmen in den Wahlkreisen und Wahlkreisverbänden teilweise erheblich. Im Hinblick auf die Ermittlung der Sitzverteilung nach den §§ 17 bis 19 LWahlG sowie die Kombination von Bezirks- und Landeslisten könnten die Stimmabgaben bezüglich der Zweitstimme in den unterschiedlichen Wahlkreisverbänden jedoch nicht losgelöst voneinander betrachtet werden.
Ungültigkeit gilt für gesamtes Wahlgebiet
Die Wahl sei auch im gesamten Wahlgebiet für ungültig zu erklären. Dafür spreche unter anderem, dass nach den ermittelten Zahlen alle Zweitstimmen, also derzeit 69 Sitze im Abgeordnetenhaus, sowie ein substantieller Teil der Erststimmen, also mindestens weitere 19 Sitze, und damit insgesamt 88 von 147 Sitzen – rund 60% – von mandatsrelevanten Wahlfehlern betroffen sind. Eine nur punktuelle Wiederholungswahl widerspräche dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass das Gesamtergebnis einer Wahl eine einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellen soll.
Wahlen zu Bezirksverordnetenversammlungen nicht eigenständig
Wegen des sogenannten Koppelungsgebots seien die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen ebenfalls für ungültig zu erklären. Hierfür sprächen im vorliegenden Fall einer kompletten Ungültigerklärung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus schon der Wortlaut des Art. 70 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin (VvB). Danach würden die Bezirksverordnetenversammlungen in allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahl zur gleichen Zeit wie das Abgeordnetenhaus gewählt. Die Koppelung trage unter anderem dem Grundsatz einer Einheitsgemeinde, wie sie in Art. 1 Abs. 1 VvB vorgesehen ist, Rechnung. Die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen sollen damit keinen eigenständigen Charakter erlangen, betont der VerfGH.