Richterin wieder wegen Rechtsbeugung verurteilt
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Nach und nach verlor sie die Kontrolle über ihr Dezernat. Und irgendwann fiel auch der schöne Schein in sich zusammen. Nachdem der BGH die erste Verurteilung einer Amtsrichterin aus Lüdenscheid beanstandet hatte, hat das LG Hagen die Juristin nun erneut wegen Rechtsbeugung verurteilt. Die Strafe fällt milder aus, in Haft muss sie dennoch.

Es wurde irgendwann einfach zu viel. Eine junge Amtsrichterin mit einem tadellosen Image, im Kollegenkreis beliebt für ihre Hilfsbereitschaft und geschätzt für ihr Wissen, bekam in Wahrheit ihre Arbeit über Monate hinweg nicht bewältigt. Sie verschleppte Verfahren, riss Absetzungsfristen und zuhause stapelten sich unerledigte Akten. Um ihr Versagen zu kaschieren, überschritt sie irgendwann Grenzen: Sie fälschte Verfügungen und manipulierte sogar ein Hauptverhandlungsprotokoll. Die Strafrichterin, die früher andere ins Gefängnis schickte, muss nun bald wohl selbst in Haft.

Nachdem sie bereits in einem ersten Verfahren zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden war, hob der BGH den Strafausspruch zwischenzeitlich auf und verwies die Sache zur neuen Strafzumessung zurück. Das LG Hagen verurteilte die Juristin am Montag nun zum zweiten Mal wegen Rechtsbeugung in zehn Fällen sowie Urkundenfälschung, Verwahrungsbruch und Urkundenunterdrückung, dieses Mal zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten. Entsprechende Medienberichte bestätigte eine Gerichtssprecherin im Gespräch mit beck-aktuell. Auch ihr Amt und ihre Pensionsansprüche ist die Richterin los. An der Bewertung ihrer Taten hat sich rechtlich nicht viel geändert, im zweiten Durchgang vor dem LG Hagen ging es vor allem um den Unterschied zwischen aktivem Tun und Unterlassen in einigen Fällen.

Das erste Urteil der Strafkammer in Hagen vom 18. November 2021 (46 KLs 8/21) zeichnet das Bild eines Menschen, der verzweifelt gewesen sein muss. Eine Frau, die immer allem und allen gerecht zu werden suchte und nach außen lange Zeit ein perfektes Bild aufrechterhielt, während sie zunehmend bemerkte, wie ihr die Dinge entglitten. Sie sprach Urteile, schaffte es aber nicht, diese innerhalb der gesetzlichen Frist abzusetzen. Als Grund nennt ihr Verteidiger heute Prokrastination - eine pathologische Störung, die durch ein unnötiges Vertagen des Beginns oder durch Unterbrechen von Aufgaben gekennzeichnet ist. Man stellt Dinge nicht oder nur unter Druck fertig. Im Prozess versuchte die Verteidigung sogar, deswegen eine Verminderung der Schuldfähigkeit nachzuweisen. Doch sowohl in der ersten als auch der zweiten Hauptverhandlung kamen Gutachter zu dem Schluss, dass in ihrer Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht eingeschränkt war.

Im Büro und im privaten Keller stapelten sich die Akten

Das LG Hagen betonte seinerzeit 2021 die "hohe kriminelle Energie" der Angeklagten. Weil sie ihre Versäumnisse vertuschen wollte, begann sie, Akten zu manipulieren. In einem Fall fälschte sie sogar ein Hauptverhandlungsprotokoll, indem sie die ersten beiden Seiten und den angehängten Urteilstenor entfernte und einen Aussetzungsbeschluss einfügte. Die Akte sah nun aus, als habe sie den Angeklagten in dem Strafbefehlsverfahren nicht in Abwesenheit verurteilt, die längst abgelaufene Frist zur Urteilsabsetzung lief nicht mehr. Die Richterin führte das Verfahren einfach fort. Möglich war das nur, weil der seinerzeitige Vertreter der Staatsanwaltschaft zwischenzeitlich in Ruhestand gegangen war.

Das ganze Kartenhaus fiel schließlich in sich zusammen, weil ein Justizbediensteter Verdacht schöpfte und einen Richterkollegen hinzuzog. Sie konfrontierten die Richterin, die jedoch die Vorwürfe abtat oder erklärte, sie könne sich die Verzögerungen nicht erklären und müsse selbst nachschauen. Auch erboste Sachstandsanfragen der Staatsanwaltschaft wiegelte sie ab. Schließlich informierte der Justizbedienstete auch die stellvertretende Direktorin des Amtsgerichts, die wiederum die Direktorin hinzuzog. Als die Richterin im Urlaub war, beschloss man, ihr Dienstzimmer zu betreten und fand dort einen chaotischen Zustand vor. Das erste Urteil des LG Hagen beschreibt ihn so: "Akten lagen nahezu auf jeder verfügbaren Fläche und lagerten auch im Garderobenschrank. Insbesondere befanden sich im Büro verschiedene Sachstandsanfragen, nachdem ein Termin in einer Familiensache mit der Anordnung "weiteres von Amts wegen" geendet hatte, ebenso wurde unter anderem eine Akte gefunden, in der Termin zur Bekanntgabe einer Entscheidung bestimmt worden war, aber weder eine Entscheidung getroffen wurde noch ein Terminprotokoll vorlag."

Als später Staatsanwaltschaft und Polizei die Wohnung der Richterin durchsuchten, boten sich noch mehr Bilder des Jammers: Ganze Räume waren förmlich zugemüllt, im Keller stapelten sich Kartons mit Gerichtsakten - offenbar beiseitegeschafft, um sie selbst nicht mehr sehen zu müssen. Es waren Zustände, aus denen die Verzweiflung eines Menschen spricht, dem alles entglitten zu sein scheint und der dann alles unternahm, um wenigstens den Schein aufrechtzuerhalten.

Wie konnte es dazu kommen?

Die Frage, die beim Blick auf diesen Fall naheliegt: Wie konnte es so weit kommen? Dies hat offenbar auch das LG Hagen umgetrieben, das für sein erstes Urteil tief in die Persönlichkeit der Angeklagten einstieg. Dabei begann man schon mit ihrer Geburt, die aufgrund schwerer Komplikationen beinahe einen Hirnschaden zufolge gehabt hätte, und hangelte sich an ihrer Kindheit weiter. Schon in der Schule fiel sie als sehr unordentlich und schludrig auf, um dann später auf dem Gymnasium mit einem 2,1er-Schnitt zu reüssieren. Das LG nennt ihre späteren schulischen Leistungen "ergebnisorientiert". Sie meldete sich im Unterricht und trug etwas bei, um dann erst einmal wieder in Ruhe gelassen zu werden. "Sie bezeichnete sich selbst als eher wenig strebsame, durchschnittliche Schülerin", so das LG. "Allerdings fehlte ihr während der gesamten Schulzeit der Anschluss an die Klassenkameraden. Sie lief eher mit, war nicht die Beliebteste und hat sich häufiger gefragt, welches Verhalten die anderen von ihr erwarten würden." 

Die Kammer war offensichtlich sehr bemüht, zu verstehen, was für einen Menschen sie da vor sich hatte und was zu den Taten geführt hatte. Doch weder die kaum besondere Leistungsunlust und der Teenager-typische Wille, dazuzugehören, noch das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter oder das eher eigenbrötlerische Studentinnenleben der jungen Frau können wirklich eine Erklärung geben. Den Druck, den Erwartungen des Umfeldes und auch den eigenen Erwartungen gerecht zu werden, spürt wohl jede und jeder von Zeit zu Zeit. Am Ende ist es vielleicht nur ein schmaler Grat, der Menschen, denen beruflich und privat viel abverlangt wird, davon trennt, die Kontrolle zu verlieren.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Verteidiger der verurteilten Juristin hat bereits angekündigt, erneut in Revision gehen zu wollen. Ob ihr dies den Gang ins Gefängnis erspart, ist aber zweifelhaft, da der BGH die übrige Bewertung des LG Hagen kaum beanstandet hatte.

LG Hagen, Urteil vom 06.05.2024 - 46 KLs 8/21

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 8. Mai 2024.