Normalerweise gilt der Grundsatz "zwei Juristen, drei Meinungen". Doch ausnahmsweise sind sich Studierende, Praktiker und Professorenschaft einig. Was die Justizministerinnen und -minister der Länder am 5. und 6. Juni 2024 in Hannover beschlossen haben, ist Quatsch. Brandgefährlicher Quatsch. Für die mentale Gesundheit der Studierenden, die Digitalisierung, die Zukunft der juristischen Berufe, den Rechtsstaat als Ganzes und die Herausforderungen unserer Zeit. Ein Ventil für diesen Ärger bietet jetzt die Social-Media-Kampagne #iurserious, an der sich mittlerweile zahlreiche Juristinnen und Juristen aus allen Bereichen beteiligt haben.
Gleichzeitig hat das Bündnis zur Reform der juristischen Ausbildung e.V. (iur.reform), das selbst Anfang 2023 eine umfangreiche Studie zur Ausbildung veröffentlicht hat, eine eigene Aktion gestartet: Ein offener Brief an die Justizministerinnen und Justizminister, der in drei Tagen knapp 800 Unterschriften gesammelt hat.* Die Unterzeichner fordern mehr Anerkennung für das Reform-Thema und einen besseren Austausch zwischen Politik und Unis.
Die Aktionen sind dabei eine direkte Reaktion auf die 95. Justizministerkonferenz. Auf der Tagesordnung stand auch die juristische Ausbildung. In diesem Rahmen stellte der “Koordinierungsausschuss zur Angleichung und Harmonisierung der Juristenausbildung (KOA)” die Ergebnisse der Untersuchungen zur Zukunft der juristischen Ausbildung vor. Auf die Empfehlung der Berichterstatter Nordrhein-Westfalen und Berlin beschloss man: "Die Justizministerinnen und Justizminister […] sind sich einig, dass grundlegender Reformbedarf nicht besteht." Inzwischen wurde der gesamte Bericht veröffentlicht – und stößt in Lehre, Praxis und Studierendenschaft gleichwohl auf große Ablehnung.
Bereits vor der Frühjahrskonferenz hatten der Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. (BRF) und das iur.reform zum dritten Mal zu einer Demonstration für eine bessere Juristenausbildung in Hannover aufgerufen. Doch die Forderungen der Demonstranten verhallten einmal mehr ungehört. Stattdessen macht man jetzt im Netz mobil. Unter dem Hashtag #iurserious werden alle vom Beschluss der JuMiKo Betroffene dazu aufgerufen, ihre Vorschläge für eine Reform der juristischen Ausbildung zu veröffentlichen.
"Über das Wie kann man streiten, über das Ob nicht"
Gestartet wurde #iurserious unter anderem von Emilia De Rosa, die im BRF aktiv ist. Über die Aktion sagt die Jurastudentin: "#iurserious will einen breiten, informierten und (ergebnis-)offenen Diskurs über die juristische Ausbildung. Dabei sehen wir genau eine Prämisse als gesetzt an: Über das WIE kann man streiten, über das OB nicht. Gemeint ist die grundsätzliche Reformbedürftigkeit, die aus unserer Sicht keiner weiteren Diskussion bedarf."
Darüber hinaus verfolge #iurserious aber keine eigene inhaltliche Agenda. Aus diesem Grund habe man die Aktion auch ganz bewusst als Einzelpersonen gestartet und nicht über den BRF gelaunched. Vielmehr müsse #iurserious ein Gemeinschaftsprojekt sein, damit sich der Diskurs über einzelne Bubbles hinweg vernetze und somit Stück für Stück an Sichtbarkeit gewinne.
"Wir müssen es jetzt in eine 'always on' Debatte schaffen. Ein Beitrag nach dem anderen, alle durch #iurserious miteinander verbunden. Wenn der öffentliche Druck immer nur für wenige Wochen anhält, lässt er sich zu leicht aussitzen“, so De Rosa.
Großer Zuspruch für #iurserious
Vor allem auf LinkedIn, Instagram und Twitter hagelt es unter dem Hashtag Kritik am JuMiKo-Beschluss. Mit einer Mischung aus persönlichen Erfahrungen, Verbesserungsvorschlägen und eindrücklichen Ermahnungen melden sich deutschlandweit Juristinnen und Juristen zu Wort. Und dieses Mal sind nicht mehr nur die Jurastudierenden ganz vorne mit dabei. Auch viele Professoren und Praktiker machen ihrem Ärger Luft.
"Wenn 60-jährige (Politik-)Juristen über Reformen der eigenen Ausbildung diskutieren, kann da nichts bei rumkommen. […] ‚Wir mussten da auch durch‘ ist ein Argument für die Tonne“, schreibt beispielsweise der Recruitement- und Social Media Experte Yannik Boos. Für den Legal Tech Spezialisten Kilian Springer ist klar, dass die "juristische Ausbildung modernisiert werden muss". Doch das ist ein Problem, denn: "Veränderung – ein offenbar zu heißes Eisen für die konservative Juristerei", so der Wirtschaftsjournalist Götz Kümmerle.
"Sinkende Rechtsanwaltszahlen, keine Richter weit und breit, überlastete Justiz – und das in so spannenden Zeiten von AI! Viele werden daher gar nicht in den Genuss kommen, meinen Job kennenlernen zu dürfen. Das kann nicht sein!" – schreibt Max Wehmeier, Partner der Kanzlei Alpmann Fröhlich.
Wendelin Neubert, Gründer der Lernapp "Jurafuchs", hält den Beschluss der JuMiKo für "skandalös" und nennt die Befragung von lediglich 90 Personen im Jahr 2019 für eine "Beleidigung" aller, die sich ernsthaft um eine Reform bemühen. So beispielsweise Susanne Hähnchen (Universität Potsdam) und ihr Kollege Roland Schimmel (Frankfurt UAS). Beide Professoren sprechen sich bereits seit Jahren für eine Reform des Jurastudiums aus. An ihren Universitäten, in Vorträgen, Zeitschriftenartikeln, Podcasts und in online Beiträgen – bisher jedoch größtenteils erfolglos.
Jeder findet Gehör
Der Hashtag hat bereits nach wenigen Tagen das geschafft, was vorher unmöglich erschien. Er vereinigt die ansonsten oft verstrittenen Fronten innerhalb der Jurabranche und zeigt, dass sich bezüglich des grundsätzlich bestehenden Reformbedarfs ausnahmsweise einmal alle einig sind. Die Bandbreite der diskutierten Reformvorschläge ist dabei überraschend – und vielleicht der größte Gewinn der Aktion. Die online Kampagne soll zum Brainstormen, zur Kreativität und zur Offenheit einladen.
"Gerade in den Kommentarspalten wurde nochmal deutlich, dass der öffentliche Diskurs schon so viel weiter ist als der politische. Reformbedarfe wurden differenziert analysiert und mit Daten hinterlegt, Reformansätze wurden als Hypothesen formuliert und auf Potentiale und Risiken hin abgewogen", sagt De Rosa.
Auch Stimmen, die ansonsten eher in der Masse untergehen, finden über #iurserious plötzlich Gehör. So beispielsweise das Netzwerk multikultureller Jurist*innen, das insbesondere auf das Thema "mentale Gesundheit" hinweist. Oder "Legally Female" und seine Gründerinnen, die sich für eine weiblichere Perspektive auf das Recht stark machen.
Offener Brief an die Justizministerien
Doch #iurserious ist nicht der einzige Protest gegen den JuMiKo-Beschluss. Auch das Bündnis iur.reform legt nochmals nach – mit einem offenen Brief zum Beschluss der Justizministerkonferenz, dem sich zum jetzigen Stand bereits knapp 800 Menschen angeschlossen haben. Der Brief findet klare Worte: "Dieser Beschluss verkennt die Realität und ist eine anachronistische Feststellung, die den Ergebnissen unterschiedlicher Erhebungen und den Erkenntnissen unterschiedlicher Verbände und Initiativen widerspricht." Man fordere eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Zukunft der juristischen Ausbildung unter Einbeziehung aller Stakeholder.
"Es gibt zu viele Erhebungen, die gezeigt haben, dass Reformbedarf besteht. Unsere iur.reform-Studie hat gezeigt, dass zum einen 52% der knapp 12.000 Befragten unzufrieden sind mit der Ausbildung und dass sich zwei von drei Gruppen (In Ausbildung, Praktiker/innen, Ausbildende) bei 25 Reformvorschlägen sogar einig sind, dass diese eingeführt werden sollten“, ordnet Martin Suchrow-Köster von iur.reform ein. "Was uns besonders verwundert hat, ist die Grundlage für diesen Beschluss der JuMiKo. Der Koordinierungsausschuss hat den Beschlussvorschlag auf Grundlage von 90 Interviews mit Personen aus der juristischen Gemeinschaft erstellt. Diese Erhebung ist an sich interessant, auch wenn es an der Wissenschaftlichkeit der Arbeit große Kritik gibt. Zum einen wurden die Interviews 2019, also vor fünf Jahren, geführt. Zum anderen fehlen Aspekte guter qualitativer Forschung."
Der Offene Brief zeige, dass eine große Anzahl an Verbänden und Personen aus der juristischen Gemeinschaft mit einem derartig undifferenzierten Beschluss schlicht nicht einverstanden seien, so Suchow-Köster. "Wir erhoffen uns, dass die Justizministerinnen und Justizminister erkennen, dass dieser Beschluss keine Wirkung in der Zukunft haben kann. Die Zukunft der juristischen Ausbildung ist wichtiger denn je. Der Fachkräftemangel in den juristischen Kernberufen ist heute schon ersichtlich und wird sich in den nächsten Jahren noch drastisch verschärfen. Es ist Zeit für einen ergebnisoffenen, gemeinsamen Prozess mit allen Stakeholdern und die Justizministerinnen und Justizminister haben es in der Hand diesen Prozess in Gang zu setzen."
Neben iur.reform und dem BRF gehören auch der Deutscher Anwaltverein e.V., der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein e.V., die Neue Richtervereinigung e.V. und der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) zu den Erstunterzeichnern. Zudem über 20 Professorinnen und Professoren sowie 20 Persönlichkeiten aus der Praxis.
Der Deutsche Anwaltverein hat sich zudem auch in einer eigenen Stellungnahme mahnend zu Wort gemeldet. Man dürfe sich nicht auf dem – teilweise eingeführten – E-Examen ausruhen. "Die Digitalisierung ist längst da. Die Rechtspflege darf sich von ihr nicht abhängen lassen – und dafür müssen wir in der Ausbildung ansetzen", fordert Sylvia Ruge, Hauptgeschäftsführerin des DAV. Der Anwaltschaft ginge der juristische Nachwuchs aus. Die juristische Ausbildung müsse deswegen an Attraktivität gewinnen.
*Transparenzhinweis: Die Chefredaktion von beck-aktuell gehört ebenfalls zu den Unterzeichnern des offenen Briefs.
Die Autorin Jannina Schäffer ist Gründerin und Chefredakteurin des Online Magazins "JURios – kuriose Rechtsnachrichten". Die Volljuristin hat berufsbegleitend an der Deutschen Hochschule der Polizei promoviert.