Asylbeschlüsse des VG Berlin: "In einem Rechtsstaat liegt es nah, sich daran zunächst zu orientieren."
© Sascha Rheker

Der Innenminister nennt die Beschlüsse Einzelfallentscheidungen und setzt die Zurückweisungen an den Grenzen fort. Der Richter wird öffentlich beschimpft, die Beschlüsse werden als abgekartet insinuiert. Für Andreas Voßkuhle sind das genug Gründe, eine drohende Erosion des Rechtsstaats zu diskutieren.

Beck-aktuell: Das VG Berlin hat vergangene Woche entschieden, dass die Zurückweisung von drei Menschen aus Somalia an der deutsch-polnischen Grenze auf deutschem Staatsgebiet rechtswidrig ist, weil sie einen Anspruch darauf haben, dass geprüft wird, welcher Staat für ihr Asylgesuch zuständig ist. Herr Professor Voßkuhle, hat die Entscheidung Sie in der Sache überrascht?

Andreas Voßkuhle: Ich bin kein Migrationsrechter, aber viele Juristen haben sich mit dieser Entscheidung befasst. Nein, überraschen konnte sie einen nicht. Es bleibt aber eine insgesamt schwierige Rechtsfrage, wie die Möglichkeiten rechtlich ausgestaltet sind, sich an der Grenze zu verhalten. Insofern wird uns das Thema noch etwas beschäftigen.

Beck-aktuell: Die Bundesregierung, speziell der zuständige Innenminister, Alexander Dobrindt, stellt sich auf den Standpunkt, es handele sich um "Einzelfallentscheidungen". Man werde in der Begründung nachbessern, die Zurückweisungen werden aber fortgesetzt. Kritikerinnen und Kritiker fürchten, diese Reaktion der Regierung untergrabe das Vertrauen in die Justiz, damit in die Gewaltenteilung und letztlich in die Demokratie. Teilen Sie die Bedenken?

"Diskutieren, ob eine Erosion des Rechtsstaats droht"

Voßkuhle: Da muss man unterscheiden. Niemand, insbesondere auch nicht der Innenminister, bezweifelt, dass die Entscheidung des VG Berlin befolgt werden muss. Auch das könnte anders sein, wie wir gerade in den USA lernen.

Die zweite Frage ist: Hat eine Entscheidung, die formal keine Bindungskraft für andere Entscheidungen entfaltet, nicht gleichwohl eine Bedeutung für den politischen Prozess? Da wird man sagen müssen: das hat sie. In gleichgelagerten Fällen liegt es in einem Rechtsstaat für die Exekutive jedenfalls nahe, sich an diesen Entscheidungen zunächst einmal zu orientieren. Ob die Fälle gleichgelagert sind, ist selbstverständlich genau zu prüfen. Ich gehe davon aus, dass diese Prüfung jetzt stattfindet.

Beck-aktuell: Die ausführlichen Ausführungen des VG Berlin, das sich mit sämtlichen von der Regierung für die Zurückweisungen vorgebrachten Argumenten beschäftigt, sind grundsätzlicher Natur und dürften auf alle Zurückweisungsfälle an deutschen Grenzen übertragbar sein. Wenn der Staat sich daran – abgesehen von den konkret entschiedenen Fällen – dennoch nicht hält, droht dann nicht tatsächlich eine Erosion des Rechtsstaats, eine slippery slope in Richtung genau der aktuellen amerikanischen Verhältnisse, die Sie eben ansprachen?

Voßkuhle: Ich glaube, das müssen wir jedenfalls diskutieren. Ich halte das auch nicht für eine vom Zaun gebrochene Diskussion, sondern wir müssen jetzt sehr klar darüber sprechen, wie wir mit unserem Rechtsstaat im Zusammenhang mit der Migrationsproblematik umgehen, gerade weil es in der Vergangenheit in Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu einer tatsächlichen Erosion des Rechtsstaats gekommen ist. Deshalb ist es richtig, wenn wir hier vorsichtig sind.

"Einzelne Richter zu beschimpfen, ist das Ende des Vertrauens in den Rechtsstaat"

Beck-aktuell: Wie sehr muss ein Gericht eigentlich darauf achten, welche Wirkung es mit seinen Urteilen in der Öffentlichkeit erzeugt? Wir sehen, dass bereits behauptet wird, die Entscheidung sei von NGOs eingestielt worden, der Kammervorsitzende wird öffentlich benannt und beschimpft, er soll bei den Grünen gewesen sein oder eine Nähe zu der Partei haben. Da findet ja auch eine gewisse Erosion des Justizvertrauens statt. Wie sehr müssen Gerichte darauf reagieren und wie bereit sind sie auch, das schon zu machen?

Voßkuhle: Gerichte müssen sehr intensiv darauf hinwirken, in der Regel durch die Gerichtsspitze, dass wir nicht in eine Situation kommen, in der das Vertrauen in eine gerichtliche Entscheidung davon abhängt, welche konkreten Richterinnen und Richter entschieden haben und wie der Gesamtkontext war. Wenn wir anfangen, einzelne Richterpersönlichkeiten zu beschimpfen, weil wir ihre Entscheidungen nicht goutieren, dann ist das das Ende des Vertrauens in den Rechtsstaat.

Es scheint mir eines der zentralen Probleme der augenblicklichen Situation in den USA zu sein, dass man diese Grundvoraussetzung des Rechtsstaats hinterfragt. Nicht von ungefähr hat sich der Präsident des US Supreme Courts, Herr Kollege Roberts, was selten ist, zu Wort meldet. Er sagte, es sei seit über 200 Jahren gute Tradition in den USA, Richter, die Entscheidungen treffen, die uns persönlich nicht gefallen, nicht persönlich anzugreifen. Damit reagierte er auf die Forderung von Präsident Trump, einen Richter abzusetzen, weil der eine Entscheidung gefällt hat, die ihm nicht gefiel.

Beck-aktuell: Aber wer soll das verhindern, wer dafür sorgen, dass es so weit hierzulande nicht kommt?  

Voßkuhle: Erst mal sind die Gerichte selbst gefordert, vor allem die Gerichtsleitungen müssen an die Öffentlichkeit treten und deutlich machen, dass solche Vorwürfe nicht akzeptabel sind.

Beck-aktuell: Vor 15 Jahren hieß es noch, Gerichte sprächen durch ihre Urteile. Seitdem hat die Pressearbeit schon stark zugenommen, gerade an den Bundes- und den Obergerichten. Was kann die Justiz noch mehr tun, wie sich besser erklären?

Voßkuhle: Ich glaube, dass diese alte Weisheit in einer Zeit, in der es keine natürlichen Autoritäten mehr gibt, nicht mehr funktioniert. Gerichte müssen sich gut erklären und die Bürgerinnen und Bürgern überzeugen, dass sie bei ihnen in guten Händen sind. Man kann auch zugeben, dass es mitunter nicht nur eine richtige Entscheidung gibt. Wenn aber in einem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren eine bestimmte Entscheidung getroffen wurde, hat sie Autorität und muss akzeptiert werden.

"Auch Amtsrichter müssen ihre Urteile besser erklären" 

Beck-aktuell: Aber sind das nicht genau die Grautöne, die die Menschen heutzutage offenbar überfordern, die vielleicht auch gar niemand mehr zur Kenntnis nimmt, wenn sie sich nicht in kurzen Posts in sozialen Medien zusammenfassen lassen?

Voßkuhle: Das ist sicherlich ein Problem: Können wir komplexe Zusammenhänge noch erklären? Ich glaube aber, es gibt keine Alternative. Das macht es nicht leichter, da haben Sie Recht. Aber mein Eindruck ist, dass, wenn man sich Mühe gibt, wenn man auch zu den Menschen hingeht, wenn man versucht, ihre Sprache zu sprechen, es möglich ist. Ich erlebe das jedenfalls immer wieder, dass ich auch komplexe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts den Bürgerinnen und Bürgern durchaus vermitteln kann. Deshalb bin ich da nicht so pessimistisch.

Beck-aktuell: Aber gerade von den Präsidenten und Präsidentinnen der Fachgerichte, die sehr im Fokus von Populisten stehen, hört man, es fehlten die Zeit und auch die Kapazitäten, sich so zu erklären. Muss dann da etwas grundsätzlich passieren, notfalls auch zulasten der Zahl der entschiedenen Fälle?

Voßkuhle: Ja, das würde ich deutlich bejahen. Wenn das so sein sollte, dann muss dieses Opfer gebracht werden. Wir haben vor einigen Jahren sehr intensiv darüber diskutiert, ob Vorsitzende an Bundesgerichten ihre Entscheidungen im Fernsehen begründen sollen. Heute sehen wir, wie eindrucksvoll es ist, wenn gute Richterinnen und Richter eine komplexe Entscheidung begründen, welche Qualität das hat und was für eindrucksvolle Persönlichkeiten dort arbeiten.

Beck-aktuell: Und das gilt auch für eine Fachrichterin in erster Instanz?

Voßkuhle: Auch ein guter Amtsrichter, eine gute Amtsrichterin können ihre Entscheidungen gut erklären. Die Vorstellung, da wäre zu wenig Know-how, kann ich nicht teilen. Vielleicht wäre es auf einem etwas anderen Niveau, aber es würde funktionieren.

"Beim Schutz des BVerfG gibt es noch eine Einflugschneise"

Beck-aktuell: Es steht viel auf dem Spiel. Wenn man Checks and Balances ausschalten will, fängt man in der Regel bei der Justiz an. In Polen ist es nach Jahren nicht gelungen, wieder aufzubauen, was die PiS-Regierung in Sachen Justizumbau zerstört hat. Wäre die deutsche Justiz dagegen gut genug gewappnet? Reicht das, was wir bislang gemacht haben, um das BVerfG besser abzusichern?

Voßkuhle: Es war gut, Statusregelungen und Regelungen zur Wahl der Richterinnen und Richter des BVerfG ins Grundgesetz zu schreiben und durch eine Zweidrittelmehrheit zu schützen. Ein nicht zu unterschätzender Bereich, der noch eine kleine Einflugschneise ist, sind Verfahrensregelungen. In Polen gehörte zum Versuch, das Verfassungsgericht praktisch zu entmachten, eine Regelung, die das Gericht verpflichtete, Fälle nach ihrem Eingang zu bearbeiten. Das führt dazu, dass Gerichte zu allen aktuellen Fragen nichts sagen können, weil sie zunächst möglicherweise tausende andere Fälle abarbeiten müssen - und letztlich dazu, dass sie, was den aktuellen Verfassungsschutz angeht, nicht funktionsfähig sind.

Beck-aktuell: Müssten wir nicht auch noch stärker auf die unteren Instanzen blicken? Die Justiz beginnt ja, gerade auch aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger, in den unteren Instanzen.

Voßkuhle: Das ist auch wichtig. Aber Sie brauchen natürlich einen mächtigen Beschützer, der sofort, wenn unten etwas schiefläuft, sagen kann, das ist verfassungswidrig und diese Regelung werden wir für nichtig erklären. Insofern spielen Verfassungsgerichte da schon eine wichtige Rolle. Es ist nicht von ungefähr so, dass gewählte Parteien, die versuchen, ein totalitäres System zu errichten, zunächst das Verfassungsgericht entmachten. Danach beschäftigen sie sich mit dem Rest der Justiz. In den unteren Instanzen geht es vor allem um die Personalauswahl.

"Der Blick nach Ungarn und Polen muss uns vorsichtig machen"

Beck-aktuell: Stichwort Verfassungsfeinde in der Justiz.

Voßkuhle: Genau: Wenn ich alle meine Freunde in die Justiz bringe, dann wird sich da etwas ändern. Das ist die Situation, die wir im Moment in Ungarn beobachten können. Die Situation in der dortigen Justiz ist sehr unerfreulich - und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Justiz sehr klein.

Gerichte bleiben fragile Institutionen. Der Rechtsstaat lebt von Vertrauen, auch von Akzeptanz, lebt vom Ethos der Personen, die dort arbeiten. Insofern ist er nie ganz geschützt. Auch Siegfried hatte eine schwache Stelle. Wir sehen in Polen, wie schnell ein funktionsfähiges System kippen kann. Dabei hatte gerade die polnische Rechtsprechung, speziell auch das polnische Verfassungsgericht, einen exzellenten Ruf auf europäischer Ebene. Das muss uns vorsichtig machen.

Deshalb beruhigt es mich, dass diese Diskussion bei uns angekommen ist und wir uns über unseren Rechtsstaat ernsthaft Gedanken machen. Noch vor 10 Jahren war man da ziemlich wurschtig und ging davon aus, hier in Deutschland könnte das alles nicht passieren. Mittlerweile sind wir vorsichtiger. Das ist die erste Voraussetzung dafür, Gefahren abzuwehren und darauf zu reagieren.

Herr Professor Voßkuhle, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Prof. Dr. Dr. hc. mult. Andreas Voßkuhle war von 2010 bis 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzender des Zweiten Senats. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist einer der Mitinitiatoren der "Initiative für einen handlungsfähigen Staat", die die Effizienz und Bürgernähe der deutschen Verwaltung durch umfassende Reformen stärken will.

Das veröffentlichte Interview ist ein Auszug aus einem ausführlichen Gespräch mit Andreas Voßkuhle, in dem es u.a. auch um die "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" geht. In allen guten Podcast-Playern und hier geht’s zu Folge 56 von Gerechtigkeit & Loseblatt,dem Podcast von NJW und Beck-aktuell.

Die Fragen stellten Pia Lorenz und Dr. Hendrik Wieduwilt.

Redaktion beck-aktuell, Pia Lorenz und Dr. Hendrik Wieduwilt, 10. Juni 2025.

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