Gerichte und die Anreise zu Terminen: Der Anwalt kann’s nicht richtig machen
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Selbst mit mehr Videoverhandlungen müssen Anwälte auch künftig zu manchem Termin anreisen. Martin W. Huff ist empört: In zwei aktuellen Urteilen machten Gerichte es den Anwälten praktisch unmöglich, Reisen so zu planen, dass sie rechtzeitig im Gerichtssaal sind – oder, wohlgemerkt, nicht sind.

Zwei aktuelle Fälle geben Anlass, sich zu fragen, wie man es eigentlich als Anwalt noch richtig machen soll, wenn man zu einem – im schlimmsten Fall womöglich noch weit entfernten – Termin anreisen muss. Und dazu, sich zu fragen, wieso die Justiz, die seit jeher den Anwältinnen und Anwälten vorschreibt, wie sie zu reisen haben, die Zumutbarkeitsmaßstäbe, die sie von der Anwaltschaft erwartet, nicht auch dem eigenen Handeln zugrunde legt. 

Im ersten Fall hat der Bundesfinanzhof in einer – eigentlich völlig unnötigen – Randbemerkung in einem Urteil vom 26.07.2023II R 4/21 die Anforderungen an eine rechtzeitige Anreise zum Gerichtstermin sehr hoch gesetzt. Es ging um die Frage, ob ein erheblicher Grund für eine kurzfristige Terminsverlegung vorliegt, wenn ein Flug von Düsseldorf nach München für den frühen Morgen am Vorabend kurzfristig annulliert wird.

Hätte der Flug stattgefunden, wäre der Rechtsanwalt zwei Stunden vor dem Termin in München gewesen. Im entschiedenen Fall hatte der Anwalt das Angebot des Senats, dann per Video zu verhandeln, unverständlicherweise nicht angenommen. Daraufhin hatte der Senat den Verlegungsantrag (zu Recht) abgewiesen, ohne den Advokaten verhandelt und entschieden. So weit, so gut.

BFH: Vielleicht mindestens ein alternatives Verkehrsmittel einplanen?

Aber die obersten Finanzrichterinnen und -richter formulieren in Randnummer 14 zusätzlich: "Dabei kann es dahinstehen, ob der kurzfristige Ausfall einer Flugverbindung überhaupt einen erheblichen Grund im Sinne des § 227 Abs. 1 ZPO darstellt, oder ob ein Prozessbevollmächtigter seine Anreise zu einem Termin zur mündlichen Verhandlung so planen muss, dass er zumindest auf ein alternatives Verkehrsmittel ausweichen kann und den Termin – gegebenenfalls mit einer Verspätung – wahrnehmen kann."

Zwar habe das Bundesverwaltungsgericht in einem älteren Urteil entschieden, dass sich ein Prozessbevollmächtigter bei der Planung seiner Anreise zu einer auswärtigen mündlichen Verhandlung grundsätzlich auf die Einhaltung der planmäßigen Beförderungszeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln verlassen darf (Urteil vom 10.12.1985 – 9 C 84.84). "Der Senat hat jedoch Zweifel daran, ob diese Entscheidung auf die heutige Zeit, in der Zug- und Flugausfälle zum Regelfall gehören, übertragbar ist. Das gilt jedenfalls bei einer Anreiseplanung, die – wie im Streitfall – von vornherein so kurzfristig ausgestaltet ist, dass eine rechtzeitige Anreise nur unter optimalen Umständen und nur unter Ausschluss jeglicher Verzögerung möglich ist." 

LG München I: Bitte später losfahren und stets mobil das beA checken

Im zweiten Fall, über den in der vergangenen Woche das Landgericht München I entschied, führte ein Rechtsanwalt aus Lübeck für einen Mandanten ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht München. Termin zur Güteverhandlung war bestimmt auf den 12.01.2022 um 15.15 Uhr; warum dieser nicht per Video durchgeführt wurde, thematisiert das LG München I nicht.

Der Kollege wollte wohl sichergehen und wählte als Verkehrsmittel das Auto. Er entschied sich nach eigenen Angaben, am 11.01.2022, also am Vortag, um 9.00 Uhr loszufahren, es ging ja vom hohen Norden in den tiefen Süden. Weil an diesem Tag niemand mehr in seiner Kanzlei gewesen sei, habe er sein Kanzleitelefon auf sein Mobiltelefon umgestellt und sei losgefahren. Um 10.39 Uhr an diesem 11. Januar aber stellte das ArbG München ihm in sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) die Abladung für den Termin ein: Dieser würde am 12. Januar nun doch nicht stattfinden. Einen Versuch, den Anwalt telefonisch zu erreichen, unternahm das ArbG nicht. Als er im Süden ankam, fand er die Abladung vor. Im Wege der Amtshaftung verlangte sein Mandant vom Freistaat Bayern die Freistellung von den Reisekosten, die ihm der Anwalt in Rechnung stellte.  

Das LG München I (Urteil vom 11.10.2023 – 15 O 7223/23nicht rechtskräftig) aber hat die Klage mit einer erstaunlichen Begründung abgewiesen: Es sei dem Gericht nicht zumutbar gewesen , den Rechtsanwalt von der Terminsaufhebung telefonisch zu informieren, die Einstellung in das beA sei völlig ausreichend gewesen. Denn das Gericht habe nicht damit rechnen müssen, dass der Anwalt so früh losfahre, dass in seiner Kanzlei niemand war, der die beA-Nachricht öffnete und dass der Rechtsanwalt nicht dafür gesorgt habe, dass er beA-Nachrichten umgehend sehe, notfalls über eine mobile Anwendung. "Naheliegend" wäre gewesen, dass er eine Flugverbindung am Terminstag wähle oder früh morgens mit dem Zug fahre, meint die Münchner Kammer. Somit habe der Rechtsanwalt schuldhaft Reisekosten provoziert, die er auch nicht von seinem Mandanten erstattet verlangen könne. Eine Amtshaftung sei daher unter keinem Gesichtspunkt gegeben. 

Zu spät losgeflogen, zu früh losgefahren: Wie wäre es denn genehm?

Wie kommen die Gerichte eigentlich dazu, Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen vorzuschreiben, wie sie zu einem Gerichtstermin anzureisen haben? Wer knapp kalkuliert, dem wirft der BFH vor, er hätte Ausfälle von Verkehrsmitteln einkalkulieren müssen.

Reist man hingegen rechtzeitig mit einem Zeitpuffer an, dann ist es nach dem LG München I auch wieder nicht richtig, weil dann ja eine kurzfristige Abladung unter Umständen den Rechtsanwalt nicht mehr erreicht. Wie macht man es denn heute richtig?

Dabei erstaunt auch der Hinweis des LG München I, die Geschäftsstelle hätte von einer Anreise mit dem Flugzeug ausgehen dürfen. Das ist eine völlig pauschale Behauptung, ins Blaue hinein. Auch dies alles ist übrigens einmal mehr Grund genug, für die Videoverhandlung als Regelfall zu plädieren.

Es gibt keine Pflicht, täglich sein beA zu überwachen – und schon gar nicht mobil

Unverständlich ist – auch aus berufsrechtlicher Sicht – die Auffassung des LG München I, der Rechtsanwalt sei verpflichtet, geradezu minütlich sein beA zu überwachen und Posteingänge zur Kenntnis zu nehmen. Eine solche Verpflichtung gibt es nicht, ich finde sie jedenfalls in der BRAO, der BORA oder den Proessordnungen nicht.

Genauso wenig übrigens wie eine Pflicht, das beA über eine mobile Anwendung zu nutzen. Solche gibt es zwar, allerdings existiert bislang keine App der für den Betrieb des Anwaltspostfachs verantwortlichen Bundesrechtsanwaltskammer, sondern nur eine von Drittanbietern.

Und: Was wäre gewesen, denn der Kollege noch am Vortag einen lange dauernden Gerichtstermin wahrgenommen hätte. Hätte er dann vor der Abfahrt noch in sein beA schauen müssen, denn Abladungen sind ja immer möglich? Hat der Kollege mit der Umleitung seines Kanzleitelefons nicht ausreichend Vorsorge getroffen? Kein Rechtsanwalt ist verpflichtet, ständig Personal vorzuhalten, das Posteingänge überwacht. Einen Vertreter oder eine Vertreterin muss er nach § 53 BRAO erst ab einer einwöchigen Abwesenheit von seiner Kanzlei bestellen.

Und wieso ruft die Justiz eigentlich nicht an?

Ist es eigentlich für die Justiz unzumutbar, in solchen Fällen zum Telefon zu greifen und die Abladung mitzuteilen? Auch das Senden einer E-Mail, die die meisten Rechtsanwälte einfacher zur Kenntnis nehmen können als eine beA-Nachricht, überfordert doch wohl niemanden, wenn die Zeit für die Kenntnisnahme knapp wird.

Das OLG Dresden (Urteil vom 18.04.2018 – 1 U 1509/17) hatte der Justiz eine solche Pflicht auferlegt. Die Münchner Richterinnen und Richter lehnen diese Auffassung mit der Bemerkung ab, dass dieses Urteil vor dem beA ergangen und beim beA von einer sofortigen Kenntnis durch den Rechtsanwalt auszugehen sei. Begründet wird das nicht. Auch darauf, dass die Anwaltschaft sicherlich entzückt wäre, wenn die Justiz elektronische Posteingänge genauso schnell zur Kenntnis nehmen würde, geht die Entscheidung nicht ein.

Alles in allem: Wie man richtig anreist, weiß man nach den beiden Entscheidungen schlicht nicht mehr, ebenso wenig, welche Vorkehrungen man nach Auffassung der Gerichte für mögliche Kommunikation während der Reise treffen muss. Es bleibt die Erkenntnis, dass die Kommunikation zwischen Gerichten und Anwaltschaft immer noch schwierig ist. Mitdenken, das scheint auf Seiten der Gerichte immer noch nicht der Regelfall zu sein – schade.

Der Autor Martin W. Huff ist Rechtsanwalt in Singen (Hohentwiel) und ehemaliger Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln. Er veröffentlicht regelmäßig Fachbeiträge u.a. zu berufsrechtlichen Themen.

Redaktion beck-aktuell, Martin W. Huff, 28. November 2023.