Ermordung von Hatun Sürücü vor 20 Jahren: Sie wollte ein selbstbestimmtes Leben

Der Fall der Berlinerin Hatun Sürücü ist bis heute präsent. Wohl auch, weil weiter Frauen wegen ihrer Art zu leben verteufelt werden. Teils geht es um patriarchale Strukturen, häufig um Besitzdenken.

Ihre Familie zwingt sie als Teenager in der Türkei zur Heirat mit ihrem Cousin. Wenig später wird die junge Deutsch–Türkin schwanger und hält es nicht mehr aus. Zurück in Berlin ändert sie ihr Leben: Zieht den kleinen Sohn allein groß, macht eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin, hat deutsche Freunde – und legt das Kopftuch ab. Der Wandel zum westlichen Lebensstil passt der aus Ostanatolien stammenden Familie nicht. Am 7. Februar 2005 wird Hatun Sürücü an einer Bushaltestelle im Stadtteil Tempelhof erschossen. An der Stelle erinnert ein Gedenkstein an die damals 23–Jährige.

Jedes Jahr wird dort am 7. Februar ihrer gedacht, auch in diesem Jahr. "Hatun Sürücü war eine mutige junge Frau, die mit ihrem Leben dafür bezahlt hat, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte", sagt der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD). In seinem Bezirk wurde der Mord damals von mehreren türkischen Schülern gutgeheißen.

Diskussion um patriarchale Strukturen

Sürücüs Tod löste bundesweit Entsetzen und eine Diskussion um patriarchale Strukturen in muslimischen Einwandererfamilien aus. Jüngere Fälle zeigen, dass weiterhin Frauen sterben, weil ihre Lebensweise verteufelt wird: Im Juni 2024 verurteilte das LG Bremen einen 24–Jährigen, der seine Schwester erstach, wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der Angeklagte habe gedacht, er müsse seine Schwester umbringen, um seine Ehre und die seiner Familie wiederherzustellen, so die Richterin.

In Berlin verurteilte das LG vor rund zwei Jahren zwei Brüder jeweils zu lebenslanger Haft, weil sie ihre Schwester im Juli 2021 ermordeten. Opfer und Täter waren aus Afghanistan geflohen. Die Frau war als 16–Jährige zwangsverheiratet worden. In Deutschland trennte sich die zweifache Mutter von ihrem gewalttätigen Ehemann, verliebte sich und wollte ihr Leben nach eigenen Vorstellungen führen. "Dieses Recht, dieses Lebensrecht, haben sie ihr abgesprochen", sagte der Vorsitzende Richter Thomas Groß.

Umstrittener Begriff

Der Begriff "Ehrenmord" ist umstritten, weil er ein ehrenhaftes Motiv suggeriert. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes verwendet ihn gleichwohl und beruft sich auf eine Definition des Bundeskriminalamtes (BKA), in der es heißt: "Ehrenmorde" sind "vorsätzlich begangene versuchte oder vollendete Tötungsdelikte, die im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustellen".

Für das Jahr 2024 recherchierte Terre des Femmes nach vorläufigen Zahlen bundesweit sechs Opfer (vier Frauen, zwei Männer) versuchter oder vollzogener Morde vermeintlich im Namen der Ehre. 2023 gab es demnach bundesweit 19 solcher Taten (15 Mädchen oder Frauen).

Opfer von Gewalt werden Frauen jedoch aufgrund ihres Geschlechts weit häufiger. Nach Zahlen der Bundesregierung wurden im Jahr 2023 in Deutschland 938 Mädchen und Frauen Opfer von versuchten oder vollendeten Femiziden, 360 Frauen und Mädchen starben. Ein Femizid ist eine vorsätzliche Tötung, bei der das weibliche Geschlecht des Opfers als Motiv eine Rolle spielt.

Weltweit wurden 2023 nach Schätzungen der Vereinten Nationen 51.100 Mädchen und Frauen von Verwandten oder männlichen Partnern getötet. Laut UN–Fachleuten schlugen viele Opfer vor ihrem Tod wegen Gewalt in der Beziehung Alarm. "Dies legt nahe, dass viele Tötungen von Frauen vermeidbar sind", schreiben sie in einer Studie. Kontaktverbote für männliche Partner könnten Leben retten, hieß es.

Tödliche Messerattacke trotz Kontaktverbots

Dass auch sie nicht immer nutzen, zeigt ein aktueller Fall: Ein 50–jähriger Libanese steht vor dem LG Berlin, weil er seine Frau im August 2024 aus "massiver Eifersucht" und "übersteigertem Besitzdenken" erstochen haben soll. Die 36–Jährige hatte sich 2020 nach häuslicher Gewalt von ihm getrennt. Sie erwirkte über ein Gericht eine sogenannte Gewaltschutzverfügung und ein Annäherungsverbot, wohnte in einer geschützten Wohnung. Doch der Ex–Mann lauerte ihr auf und stach zu.

Vieles bleibt jedoch – gerade im häuslichen Umfeld – im Dunkeln. Nach wie vor nutzen manche Eltern den Heimurlaub zur Zwangsverheiratung ihrer Kinder. Terre de Femmes geht gemeinsam mit der Polizei vor den Sommerferien in Schulen. Die "Weiße Woche" – in Anlehnung an ein weißes Hochzeitskleid – soll Gelegenheit für Gespräche geben. Sie seien oft der einzige Anlaufpunkt für Betroffene, sagt die zuständige Referentin Myria Böhmecke.

Aufklärung gegen Zwangsehen

Bei einer bundesweiten anonymen Online–Befragung der Organisation im Jahr 2022 wurden laut Böhmecke knapp 1.850 Fälle von "angedrohten oder vollzogenen Früh– und Zwangsverheiratungen an deutschen Schulen" genannt. Repräsentativ ist die Studie nicht.

Die polizeiliche Statistik weist für das Jahr 2023 bundesweit 80 Fälle von Zwangsheirat aus. Das ist ein Höchststand seit 2013 – was auch mit einer zunehmenden Sensibilität zu tun haben kann. Seit 2011 sind Zwangsehen in Deutschland strafbar und es gibt bundesweit Projekte zur Aufklärung.

Film "Nur eine Frau" erinnert an Schicksal

Die Geschichte von Sürücü ist weiter präsent – auch, weil sie juristisch immer wieder für Schlagzeilen sorgte: Ihr Mörder wurde 2006 vom LG Berlin im Alter von 20 Jahren zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt, zwei mitangeklagte Brüder wurden wegen fehlender Beweise freigesprochen.

Sie setzten sich in die Türkei ab, bevor es in Deutschland zu einem neuen Prozess kam – und wurden 2017 von einem Gericht in Istanbul freigesprochen. An das Schicksal der 23–Jährigen erinnert der Kinofilm "Nur eine Frau" (2019) mit der Deutsch–Türkin Almila Bagriacik in der Hauptrolle. Produziert wurde er von Moderatorin Sandra Maischberger. Sie betonte bei einer Diskussion anlässlich des Todestages: "Wir müssen alle Gewalttaten an Frauen – auch im Namen einer vermeintlichen Familienehre – thematisieren, denn Menschenrechte und Menschenwürde sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau stehen über allem."

Marion van der Kraats, 7. Februar 2025 (dpa).

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