Als Carles Puigdemont im Mai 2019 einen Sitz im EU-Parlament in Brüssel errang, wird er vermutlich geahnt haben, dass es noch zu Schwierigkeiten kommen könnte. Schließlich befand sich der katalanische Regionalpolitiker zu dieser Zeit im Exil, auf der Flucht vor der Zentralregierung seines Heimatlandes. Der Mann, der als Spitzenkandidat des separatistischen Bündnisses Junts per Catalunya (Gemeinsam für Katalonien) ins Rennen gegangen war, wurde in Spanien wegen des Vorwurfs der Rebellion verfolgt. Dies führte schließlich dazu, dass er sein Abgeordnetenmandat lange Zeit nicht antreten durfte. Seine Klage dagegen scheiterte nun endgültig vor dem EuGH (Urteil vom 26.09.2024 – C-600/22 P).
Hintergrund war das umstrittene Referendum über die Unabhängigkeit der spanischen Region Katalonien, das Puigdemont 2017 initiiert hatte und bei dem sich nach Angaben seiner Regionalregierung die Separatisten durchsetzten. Das Referendum war zuvor vom spanischen Verfassungsgericht verboten worden. Die Zentralregierung in Madrid setzte Puigdemont daraufhin als Regionalpräsidenten ab, es folgte ein Haftbefehl wegen Rebellion und Veruntreuung. Um einer Verhaftung zu entgehen, floh er ins Exil nach Belgien, später wurde er aufgrund eines europäischen Haftbefehls in Deutschland verhaftet, was eine Justizposse um seine Auslieferung zur Folge hatte. Schließlich zog der zuständige spanische Ermittlungsrichter den europäischen Haftbefehl zurück, da das schleswig-holsteinische OLG seiner Auslieferung nur zur Verfolgung wegen Veruntreuung, nicht aber wegen Rebellion zugestimmt hatte. Puigdemont lebte später weiter im Exil in Belgien.
Kein Eid, kein Mandat?
Dies gestaltete auch den Antritt seines Abgeordnetenmandats schwierig. Zwar konnte Puigdemont als Spitzenkandidat seines Bündnisses, ebenso wie sein Mitstreiter Antoni Comín, aus der Ferne einen Sitz im EU-Parlament erringen. Doch das spanische Wahlrecht schreibt vor, dass EU-Abgeordnete vor Beginn ihres Mandats vor Ort in Madrid einen Eid auf die spanische Verfassung leisten müssen. Puigdemont und Comín, die anderenfalls eine Festnahme riskiert hätten, blieben jedoch fern. Sie unternahmen zwar noch Versuche, ihren Eid aus der Ferne – etwa mittels eines Notars – zu leisten, dies wurde jedoch nicht anerkannt.
Bereits kurz nach der Wahl hatte der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, eine Anweisung erteilt, dass allen in Spanien gewählten Kandidaten der "besondere Empfangsdienst" für neu ins Parlament gewählte Abgeordnete zu verweigern sei und diese bis zum Erhalt einer amtlichen Bestätigung ihrer Wahl nicht zu akkreditieren. Als die spanische Regierung schließlich die amtliche Liste ihrer EU-Abgeordneten nach Brüssel übersandte, standen die Namen Puigdemont und Comín indes nicht darauf. Parlamentspräsident Tajani weigerte sich daraufhin, die beiden als künftige Mitglieder des Europäischen Parlaments zu behandeln, woraufhin diese eine Nichtigkeitsklage vor dem EuG anstrengten, was jedoch erfolglos blieb.
Parlament ließ Separatisten mit Verzögerung doch zu
Für Armin von Bogdandy, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und Professor für öffentliches Recht an der Universität Frankfurt am Main, hat das Vorgehen des damaligen Parlamentspräsidenten Tajani eine starke politische Komponente. Er habe den katalanischen Abgeordneten ihre Mandatsausübung verweigert, "weil sich die europäischen Institutionen nicht in die politische Auseinandersetzung in Spanien zwischen der Zentralregierung und Katalonien einmischen wollten", so von Bogdandy im Gespräch mit beck-aktuell. "Es gab einen Konsens, dass diese Auseinandersetzung eine rein spanische bleiben sollte, sodass die europäischen Institutionen die spanischen Entscheidungen übernommen haben."
2020 entschied sich das Parlament dann doch, den beiden Katalanen die Wahrnehmung ihres Mandats zu gestatten und bestätigte sie rückwirkend als Abgeordnete. Zwischenzeitlich hatte der EuGH in Bezug auf einen weiteren ins Parlament gewählten, jedoch in Spanien inhaftierten katalanischen Separatistenführer, Oriol Junqueras, festgestellt, dass dieser von den spanischen Behörden zu Unrecht an der Aufnahme seines Mandats gehindert worden sei.
Gegen die Entscheidung des EuG legten Puigdemont und Comín gleichwohl Rechtsmittel ein, konnten aber nun auch vor dem EuGH nicht durchdringen. Die Antwort aus Luxemburg ist – kurz gesagt: Die Entsendung der Abgeordneten war zunächst einmal eine spanische Angelegenheit. Parlamentspräsident Tajani sei damals gar nicht befugt gewesen, die Richtigkeit der spanischen Abgeordnetenliste zu überprüfen, so der EuGH in seiner Entscheidung vom Donnerstag. Eine solche Überprüfung sei allein Sache der nationalen Gerichte.
"Es geht um die demokratische Repräsentation in der Europäischen Union"
Das bedeutet nach dem EuGH-Urteil jedoch nicht, dass das europäische Recht der Hinderung der Parlamentarier nicht entgegenstehen könnte. Dies müsse man aber gegebenenfalls durch eine gerichtliche Vorlage an den EuGH oder eine Vertragsverletzungsklage klären. "Der Präsident des Parlaments hat lediglich getan, wozu er verpflichtet war". schreibt der EuGH in seiner Pressemitteilung zum Urteil. Das Schreiben vom 27. Juni 2019, mit dem er Puigdemont und Comín die Mandatsträgerrechte verweigert hatte, habe damit nichts an der Rechtsstellung der beiden geändert und stelle daher – ebenso wie die Anweisung im Vorfeld – schon keine anfechtbare Handlung dar.
Schließlich stellte der EuGH noch klar, dass die Weigerung Tajanis, den beiden Separatisten einen Schutz ihrer Vorrechte und ihrer Immunität als Abgeordnete zu gewähren, ebenfalls nicht angreifbar sei.
Für den Völkerrechtler von Bogdandy ging es in diesem Verfahren "um eine elementare Frage, nämlich um die demokratische Repräsentation in der Europäischen Union". Er sieht die Weigerung Tajanis kritisch, denn die Europäische Union selbst müsse dafür sorgen, dass die demokratische Repräsentation funktioniere. "Deshalb kann man die Frage nicht gänzlich an die Mitgliedstaaten delegieren, sondern die EU muss sie selbst überprüfen. Das hat der Parlamentspräsident unterlassen." Es gehe auch nicht darum, dass Puigdemont und Comín, die als Abgeordnete eigentlich Immunität genossen hätten, straflos hätten bleiben sollen, betont von Bogdandy, "sondern ob das Europäische Parlament darüber entscheidet, wer Immunität genießt und wer nicht. Das ist eine Frage der Unionsorgane. Diese Tatsache hat der Parlamentspräsident nicht gesehen."