Sogenannte Klimaklagen, also juristische Eingaben, mit denen Bürgerinnen und Bürger oder NGOs Regierungen und Konzerne über die Gerichte zu mehr Klimaschutz zwingen wollen, erlebten in den vergangenen Jahren einen rasanten Zuwachs. Ob der Klima-Beschluss des BVerfG 2021 oder die fast schon ebenso berühmte Klage eines peruanischen Bauern gegen den Konzern RWE – auch in Deutschland ist diese Klageart keine Unbekannte mehr.
Die Streitigkeiten spielten sich bislang jedoch schwerpunktmäßig vor den nationalen Gerichten ab. Während der EuGH eine Klage gegen das EU-Klimapaket 2018 als unzulässig abgewiesen hat, stand eine Entscheidung des EGMR über eine Klimaklage bislang noch vollends aus. Nun aber hat er einer Schweizer Vereinigung Recht gegeben, die ihr Heimatland wegen unzureichender Maßnahmen gegen den Klimawandelt verklagt hatte (Urteil vom 09.04.2024 - 53600/20).
Die "Klimaseniorinnen", wie sich der Zusammenschluss von betagteren Damen nennt, die für Klimaschutzmaßnahmen streiten, hatten in der Verhandlung in Straßburg u. a. mit dem hohen Lebensalter ihrer Mitglieder argumentiert: Sie seien aufgrund ihres Alters besonders durch den Klimawandel gefährdet, beispielsweise wegen extremer Hitzewellen. Unterstützt wurden sie in dem Verfahren von der Umweltorganisation Greenpeace. Nach Angaben von Greenpeace verfügen die "Klimaseniorinnen" über 2500 Mitglieder in der ganzen Schweiz mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren. Vier Mitglieder, allesamt Frauen über 80 Jahren, hatten zudem als Individuen geklagt.
EGMR gesteht "Klimaseniorinnen" Verbandsklagerecht zu
Schon 2016 hatten sich die Klägerinnen in der Schweiz an das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation gewandt und dort unter Verweis auf das damals erst ein Jahr alte Pariser Klimaschutzabkommen und das darin vereinbarte 1,5-Grad-Ziel mehr Klimaschutzmaßnahmen verlangt. Die Behörde hatte dies abgelehnt und dabei die Position eingenommen, dass weder die Frauen noch die von ihnen angesprochene Regierung zuständig seien. So könnten sie keine Rechte im Namen der Gesellschaft geltend machen, im Übrigen konzentriere sich ihr Begehren nicht nur auf die Schweiz, sondern vielmehr auf die Entwicklung des Weltklimas, auf das man aber keinen großen Einfluss habe. Das Schweizer Bundesverwaltungsgericht wies 2018 eine Klage der Frauen ab, ebenso wie das Schweizerische Bundesgericht zwei Jahre später.
Die Große Kammer des EGMR gab den "Klimaseniorinnen" dagegen nun Recht: Die Schweizer Regierung habe es versäumt, ausreichende Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen, was gegen das Recht auf Privat- und Familienleben aus Art. 8 EMRK verstoße.
Dabei hatte jedoch nur der Verband selbst Erfolg, die vier Individualklägerinnen hingegen hätten nicht die notwendige "Opfereigenschaft", die es für eine Klage vor dem EGMR brauche, so die Kammer. Popularklagen sind vor dem Gerichtshof grundsätzlich unzulässig, weshalb eine besondere eigene Betroffenheit nachgewiesen werden muss. Dies sei den vier Klägerinnen jedoch nicht gelungen, fanden die Straßburger Richterinnen und Richter.
Die "Klimaseniorinnen" jedoch durften als Verband im Namen aller vom Klimawandel Betroffenen klagen. Die Besonderheit des Klimawandels als gemeinsames Anliegen der Menschheit und die Notwendigkeit, die Lasten zwischen den Generationen zu verteilen, erforderten es, Verbänden im Zusammenhang mit dem Klimawandel die Klagebefugnis zuzubilligen, so der EGMR.
Kammer sieht Klimaschutz als Grundlage der Menschenrechte
In der Sache stellte der Gerichtshof zunächst fest, dass es "hinreichend verlässliche Hinweise" darauf gebe, dass der menschengemachte Klimawandel existiere und eine ernsthafte Bedrohung für die Menschenrechte darstelle und dass diese zu verringern sei, indem die Erderwärmung auf 1,5 Grad gegenüber dem Niveau des vorindustriellen Zeitalters begrenzt werde. Die bisherigen globalen Anstrengungen reichten hierzu jedoch nicht aus – eine Bürde, die vor allem künftige Generationen zu tragen hätten.
Die Kammer brachte dies in Verbindung mit dem Recht auf Privatleben aus Art. 8 EMRK, indem sie feststellte, dass dieses auch ein Recht auf wirksamen Schutz vor den schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität garantiere. Die Richterinnen und Richter, die mit einer Mehrheit von 16:1 entschieden, sehen die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen damit als Grundlage für die Verwirklichung der Menschenrechte.
Hieraus erwächst in ihren Augen für die EMRK-Vertragsstaaten die Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Auswirkungen des Klimawandels einzudämmen. Die Staaten müssten damit konkrete Zielvorgaben und Zeitpläne als Teil eines nationalen Regelwerks aufstellen.
EGMR sieht "Schlüsselrolle" der Gerichte beim Kampf für Klimaschutz
In Bezug auf die Schweiz stellte der Gerichtshof sodann fest, dass es im dortigen nationalen Rechtsrahmen "kritische Lücken" gebe, einschließlich des Versäumnisses der schweizerischen Behörden, die nationalen Emissionsgrenzen für Treibhausgase bspw. durch ein CO2-Budget zu quantifizieren. Zudem habe die Schweiz in der Vergangenheit ihre Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen nicht erreicht.
Weiterhin sah der EGMR auch das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK verletzt, da die nationalen Gerichte die Klagen der "Klimaseniorinnen" als unzulässig abgewiesen hatten. Die Gerichte hätten es dabei versäumt, die "zwingenden wissenschaftlichen Beweise für den Klimawandel zu berücksichtigen". Die Große Kammer betonte die "Schlüsselrolle", welche die Gerichte im juristischen Kampf für mehr Klimaschutz einnähmen. Aus diesem Grund sei der Zugang zum Recht in diesem Bereich besonders wichtig.
Was die Schweiz – wie ggf. auch andere Staaten, die der EGMR-Jurisdiktion unterliegen – künftig konkret besser machen muss, ließ der Gerichtshof offen. Angesichts der Komplexität hielt man es für besser, die Entscheidung, durch welche Maßnahmen der Klimaschutz verbessert wird, der Schweizer Regierung zu überlassen. Ob diese ausreichen, soll das Ministerkomitee als oberstes Entscheidungsorgan des Europarates kontrollieren.
Klimaschutz-Anwalt Klinger: "Historisches Urteil"
"Das ist ein historisches Urteil" kommentiert Remo Klinger, einer der profiliertesten deutschen Anwälte im Bereich des Klimaschutzes und Prozessvertreter in einer noch anhängigen Klimaklage gegen Deutschland vor dem EGMR, die Entscheidung gegenüber beck-aktuell. Klimaschutz stehe nicht in der EMRK, da er zur Zeit ihrer Ausarbeitung im Jahr 1950 eben noch nicht relevant gewesen sei. Dass der Gerichtshof dies nun anerkenne, stärke zukünftige Klimaklagen auf nationaler wie internationaler Ebene.
Insbesondere das vom Gerichtshof nun erstmals anerkannte Verbandsklagerecht sei "eine Weichenstellung, wie wir sie in der Geschichte der EMRK noch nicht gesehen haben", so Klinger. Künftig sei daher auch auf nationaler Ebene mit Verbandsklagen zu rechnen, die das BVerfG in seiner viel beachteten Entscheidung 2021 noch als unzulässig abgewiesen hatte. Es dürfte daher mit Spannung zu erwarten sein, ob sich deutsche Gerichte der Sichtweise des EGMR künftig anschließen. Anderenfalls, so Klinger, würden diese Urteile mit Sicherheit in Straßburg angefochten werden.
Den Einwand der Schweizer Behörden, ein Staat allein könne das Weltklima nicht ändern, ließ der Gerichtshof in seinen Augen zurecht nicht gelten. Aus der zunächst veröffentlichten Pressemitteilung war dazu noch wenig herauszulesen, doch Klinger meint: "Es dürfte dieselbe Antwort sein, die Karlsruhe 2021 bereits gegeben hat. Jeder Staat muss das ihm Mögliche tun, denn wenn jeder mit dem Finger auf den anderen zeigt, wird niemals etwas geschehen."
Portugiesische Klägerin feiert Sieg für globalen Klimaschutz
Rechtlich sind die Auswirkungen der Entscheidung damit weitreichend, politisch dürften sie – jenseits der Schweiz – allenfalls mittelfristig relevant werden, wenn nationale Klagen sich auf sie beziehen.
Am Dienstag sprach der EGMR noch zwei weitere Urteile im Zusammenhang mit Klimaschutz: Die Klagen eines französischen Bürgermeisters gegen sein Heimatland sowie von portugiesischen Jugendlichen gegen 32 europäische Staaten wurden jeweils abgewiesen. Dem französischen Politiker fehle ebenso wie den vier Seniorinnen die Opfereigenschaft, so die Richterinnen und Richter. Die Jugendlichen hätten sich unter anderem zuerst in Portugal durch die Instanzen klagen müssen, bevor sie den Gerichtshof in Straßburg anrufen.
Sofia Oliveira, eine der jugendlichen Klägerinnen, sagte nach dem Urteil, dass sie natürlich enttäuscht sei, aber der Sieg der Klimaseniorinnen ein Sieg für sie alle bedeute.