Seit Jahren gehen die Eingangszahlen an Zivilgerichten zurück, u.a., weil die Justiz vielen kaum mehr zugänglich erscheint: lange Bearbeitungszeiten, Gerichtskosten, unabsehbare Ausgänge – da lassen viele Bürgerinnen und Bürger die Streitigkeiten auf sich beruhen oder suchen eine außergerichtliche Einigung. Das wird dem Selbstverständnis der Justiz jedoch nicht gerecht, weshalb die Politik auf Reformen setzt, um sie wieder bürgernah zu machen.
Ein Baustein soll das sogenannte Online-Verfahren sein, bei dem Rechtsuchende mit einem Internet-Tool Klagen bei Gericht einreichen können, vorstrukturiert und mit Hilfestellung, um auch den Gerichten die Arbeit mit Laien-Eingaben leichter zu machen. Ein eben solches Verfahren will das Bundesjustizministerium (BMJ) nun testen.
Der Entwurf für ein "Gesetz zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit" ist am Mittwoch vom Bundeskabinett beschlossen worden. Er bietet die Grundlage für eine Erprobung im sogenannten Reallabor. Das meint nichts anderes, als dass das neue Verfahren in der Praxis – spricht, an echten Gerichten, von echten Menschen mit echten Streitigkeiten – erprobt werden soll. Um die nötigen Rechtsgrundlagen dafür zu schaffen, soll die ZPO um ein 12. Buch ergänzt werden, das neben dem groben regulatorischen Rahmen auch diverse Verordnungsermächtigungen zur konkreten Umsetzung enthält.
Verfahren soll vollständig digital ablaufen können
Mit dem Reallabor will das BMJ ausloten, wie praxistauglich ein solches Online-Tool ist, und daraus Erkenntnisse ziehen, wie ein digitaler Zivilprozess in Zukunft aussehen könnte. Rechtssuchenden soll dabei die Möglichkeit gegeben werden, ihre Ansprüche "in einem einfachen, nutzerfreundlichen, barrierefreien und digital geführten Gerichtsverfahren geltend zu machen", heißt es in der Pressemitteilung des BMJ. "Zugleich kann durch die strukturierte Erfassung des Prozessstoffs und eine weitergehende Digitalisierung der Verfahrensabläufe auch die Arbeit an den Gerichten noch effizienter gestaltet werden."
Ideen für den Entwurf lieferten dem BMJ u.a. die Länderarbeitsgruppe "Legal Tech" im Auftrag der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister sowie die Arbeitsgruppe "Modernisierung des Zivilprozesses“ der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des KG, des BayObLG und des BGH, die Anfang 2021 ein Diskussionspapier für ein beschleunigtes Online-Verfahren vorgelegt hatten.
Der Entwurf sieht u.a. vor, dass Bürgerinnen und Bürger online Klagen einreichen können, wobei sie durch Informationsangebote und Eingabehilfen unterstützt werden. Geschehen soll das Ganze einheitlich über das vom Bund bereitgestellte Bürgerkonto "Mein Justizpostfach" in einem bundeseinheitlichen Eingabesystem. Über dieses System soll praktisch die gesamte Verfahrenskommunikation ablaufen, etwa Anträge und Erklärungen eingereicht, Vergleichsabsprachen getroffen und Dokumente zugestellt werden. Anwältinnen und Anwälte können über das besondere elektronische Anwaltspostfachs (beA) an der Erprobung teilnehmen. Damit alles rein online ablaufen kann, will das BMJ zudem die bestehenden Möglichkeiten in der ZPO für Verfahren ohne mündliche Verhandlung und für Videoverhandlungen ausweiten. Auch die Beweiserhebung soll digitalisiert und das Urteil am Ende des Verfahrens digital zugestellt werden.
Das Verfahren wird zunächst bei einigen pilotierenden Amtsgerichten erprobt und ist nur für Klagen auf Geldzahlungen bis zur Streitwertgrenze (derzeit 5.000 Euro) zugänglich. Welche Gerichte mitmachen, bestimmen dabei die Länder.
Auf Wunsch der Justiz: Strukturierter Parteivortrag
Der Entwurf greift auch ein wichtiges Anliegen der Justiz auf: die Strukturierung des Prozessstoffes. Lange schon kursieren Gedanken über ein sogenanntes Basisdokument, das Klageschriften, Repliken und sonstige Schriftsätze mittels Eingabefeldern vorstrukturiert und einander gegenüberstellt. Im BMJ-Entwurf heißt es nun, der Prozessstoff solle "unter Nutzung von elektronischen Dokumenten, Datensätzen und Eingabesystemen digital strukturiert werden können". Dies fasst man vor allem für sogenannte Massenverfahren, wie Klagen im Bereich der Fluggastrechte, ins Auge.
In der Anwaltschaft wird die Idee eines strukturierten Parteivortrags traditionell eher skeptisch gesehen – man fürchtet, Richterinnen und Richter könnten damit künftig diktieren, wie und in welchem Umfang man Schriftsätze einzureichen habe. Wie die Umsetzung des BMJ-Verfahrens in der Praxis aussehen wird, bleibt nun abzuwarten. Ein neuer § 1125 ZPO sieht jedenfalls vor, dass "das Gericht (...) Maßnahmen der Prozessleitung ergreifen (kann), um den Streitstoff unter Nutzung von elektronischen Dokumenten oder digitalen Eingabesystemen zu strukturieren". Dazu könne es bspw. anordnen, dass die Parteien ihren Vortrag dem der anderen Partei gegenüberstellten, und die Parteien ihren Vortrag an passender Stelle ergänzten. Die Verwendung des Eingabesystems soll zunächst auch für die Parteien freiwillig sein, kann aber nach § 1125 Abs. 2 des Entwurfs bei bestimmten Verfahrensarten – insbesondere Massenverfahren – vom Gericht angeordnet werden. Hier hat man offensichtlich eine Arbeitserleichterung für die Justiz im Auge.
Die Länder können ergänzend zum vom Bund zentral bereitgestellten Eingabesystem eigene Systeme entwickeln und bundeseinheitlich bereitstellen, wobei das BMJ per Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die technischen, organisatorischen und datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen dafür vorgeben soll.
Bis zu 18.000 Online-Verfahren pro Jahr
Auch billiger soll es mit dem Online-Verfahren werden: "(U)m einen wirtschaftlich attraktiven Zugang zum Recht für niedrigschwellige Forderungen" anbieten zu können, sollen die Gerichtsgebühren gegenüber dem herkömmlichen Verfahren sinken.
Ob das Projekt auch gesamtwirtschaftlich Vorteile bringt, wird sich zeigen. Das Vorhaben wird aus Mitteln des Bundes im Rahmen der Digitalisierungsinitiative für die Justiz finanziert, wobei man für dieses Jahr Kosten von 3,3 Millionen Euro prognostiziert. Durch die weitergehende Digitalisierung, schreibt das Ministerium in seinem Entwurf, werde man aber auch einiges an Kosten einsparen, etwa für Postsendungen der Gerichte (jährlich rund 170.000 bis 440.000 Euro). Auch die Bürgerinnen und Bürger würden sparen, meint man in Berlin: Jährlich zwischen 75.000 und 190.000 Euro für Porto- und Wegesachkosten seien möglich, außerdem werde die digitale Kommunikation Wegezeiten von geschätzt rund 18.000 bis 47.000 Stunden sparen. Nicht zu vergessen, wenngleich nicht einfach zu monetarisieren, ist dabei sicherlich auch die erhoffte zeitliche Ersparnis für Richterinnen und Richter, die dann ihre Ressourcen anderweitig einsetzen könnten.
Bislang sind am Projekt laut BMJ elf Amtsgerichte beteiligt, davon einige, bei denen die meisten Fluggastrechte-Klagen anhängig sind. In Berlin geht man davon aus, dass ca. 20% der Bürgerinnen und Bürger, sofern möglich, das Online-Verfahren nutzen werden. Ausgehend von einem Mittelwert von 62.500 zu erwartenden Neueingängen an diesen Gerichten rechnet man daher mit 7.000 bis 18.000 Online-Verfahren im Jahr. Die Erprobung ist auf einen Zeitraum von zehn Jahren angelegt, es soll nach vier sowie acht Jahren evaluiert werden.
Der Bund ist damit jedoch nicht der erste, der auf diesem Gebiet Erkenntnisse gewinnt: Bereits seit dem vergangenen Jahr haben vier Gerichte in Bayern und Niedersachsen (Hannover, Landshut, Osnabrück und Regensburg) in Zusammenarbeit mit der Universität Regensburg ein elektronisches Vorverfahren getestet, dessen Kernstück ebenfalls ein strukturiertes Basisdokument war. Die Professoren Christoph Althammer und Christian Wolff legten im Juli ihren knapp 400-seitigen Abschlussbericht vor.