"Wir denken weiter als beA und E-Akte: Eine Plattform für die Justiz"
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© Wolff

Richterinnen und Richter der obersten Gerichte erarbeiten derzeit ihre Vorschläge für einen Zivilprozess der Zukunft. Ein Gespräch mit Ann-Marie Wolff, Präsidentin des OLG Bremen, über besser qualifizierte Richter, chaotische Anwaltsschriftsätze und die Zukunft des beA.

Die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs haben unter dem Motto "Zivilprozess der Zukunft" eine gemeinsame Initiative gestartet, die ein Konzept für ein modernes und digitales Zivilverfahren entwerfen soll. Im Rahmen der Auftaktveranstaltung am 2. März dieses Jahres am OLG Düsseldorf wurden in drei Workshops Vorschläge diskutiert und erste Eckpunkte entworfen, die bis zum Jahresende in Arbeitsgruppen konkretisiert werden sollen. Ann-Marie Wolff, Präsidentin des OLG Bremen, leitete dabei einen Workshop zum Thema Qualität und Effizienz der Rechtsprechung.

beck-aktuell: Frau Wolff, die Initiative, im Rahmen derer Sie einen Workshop leiten, nennt sich "Zivilprozess der Zukunft". Wenn Sie uns mal ein Bild malen würden: Wie sieht für Sie der Zivilprozess der Zukunft aus?

Ann-Marie Wolff: Der sieht für mich so aus, dass Menschen, die Gerichte in Anspruch nehmen wollen oder müssen, in kürzester Zeit wenigstens eine erstinstanzliche Antwort eben dieser bekommen. Ich wünsche mir für die Rechtsuchenden eine schnelle Behandlung ihres Problems – anders als es derzeit läuft.

beck-aktuell: Thema Ihres Workshops war die Qualität und Effizienz der Rechtsprechung. Forderungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren dabei laut Pressemitteilung die Stärkung des Kammersystems, verbunden mit persönlicher Kontinuität der Richterinnen und Richter in den Spruchkörpern, eine Ausweitung des Fortbildungssystems und ein verbessertes Wissensmanagement. Wie steht es in diesen Bereichen um die Justiz und was wären Beispiele für konkrete Verbesserungen, die Sie sich wünschen?

Wolff: Diese Forderungen berühren vor allem den Aspekt der Qualität der Rechtsprechung. In diesem Bereich haben wir etwa das Problem, dass wir sehr viel Fluktuation in den Kollegialgerichten haben. Wir müssen unsere jungen Kolleginnen und Kollegen in den Anfangsjahren zwar zwei bis drei verschiedene Erfahrungen machen lassen, aber wir wollen die Fluktuation insgesamt begrenzen. Zu viele Wechsel führen dazu, dass man sich immer wieder neu in andere Bereiche einarbeiten muss, was sehr zeitaufwändig ist, da müssen wir mit unseren Ressourcen bewusster umgehen. 

Weniger Bewerber – mehr Personal?

beck-aktuell: Wie möchten Sie "das Kammersystem stärken"? 

Wolff: Indem wir deutlich weniger Einzelrichtersitzungen machen. Momentan haben wir das als Regelfall vom Gesetzgeber vorgegeben. Und auch dort, wo dies nicht so ist, wird von der Möglichkeit, auf den Einzelrichter zu übertragen, viel Gebrauch gemacht, um Arbeit zu sparen.

beck-aktuell: Das wäre dann aber auch mit mehr Personalaufwand verbunden.

Wolff: Natürlich. Wenn man eine Sache zu dritt vorbereitet und entscheidet, ist das aufwändiger als wenn es einer allein macht. Deswegen habe ich bei der Vorstellung des Workshop-Ergebnisses darauf hingewiesen, dass das auch die Haushälter interessieren wird. Gleichzeitig sind wir gerade mit den vielen jungen Kolleginnen und Kollegen, die wir zuletzt hier in Bremen eingestellt haben, darauf angewiesen, Wissen im Rahmen von Kammersitzungen weiterzugeben.

beck-aktuell: Das Vorhaben klingt durchaus ambitioniert, denn Sie müssten den Spagat schaffen zwischen einem durch die demographische Entwicklung geschrumpften Bewerber-Pool und einem erhöhten Personalaufwand. Halten Sie das – auch länderübergreifend – für realistisch?

Wolff: In Stadtstaaten wie Bremen haben wir das Problem der Personalgewinnung nicht so stark wie anderenorts. Fakt ist aber auch: Rechtsstreitigkeiten werden komplexer und wir brauchen dafür gut qualifizierte junge Leute. Dann kann es zum Problem werden, genügend zu finden, wie man in einigen Bundesländern heute schon sieht, die mit ihren Einstellungsvoraussetzungen stark runtergehen. Allerdings möchte ich auch sagen: Man hat ja drei Jahre lang Zeit, die jungen Kolleginnen und Kollegen zu erproben.

beck-aktuell: Sie könnten sich also auch mit niedrigeren Notenanforderungen anfreunden, wenn man dafür in der Probezeit stärker aussortiert?

Wolff: Ja. Wir haben hier in Bremen einige Kolleginnen und Kollegen,  die aus anderen Bundesländern gekommen sind, wo die Anforderungen niedriger sind. Diese Kolleginnen und Kollegen machen hier richtig gute Arbeit. Die Examensnote ist also nach wie vor wichtig, aber man kann sich auch in der Praxis gut bewähren.

"Man muss seitenlangen Vortrag von Rechtsauffassungen auf Sachverhalt untersuchen"

beck-aktuell: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops waren sich einig, dass Zivilverfahren von einem frühen Strukturierungstermin mit Verfahrensfahrplan profitieren würden und frühzeitige Hinweise sinnvoll seien, die zu einer Begrenzung und Zielrichtung des Parteivortrags beitragen könnten. Sind das nicht alles Dinge, die so oder so ähnlich bereits in der ZPO stehen – Stichwort: Beschleunigungsgrundsatz?

Wolff: Das ist uns auch im Workshop entgegengehalten worden. Aber bei sehr umfangreichen Schriftsätzen, die wir mitunter von Anwälten bekommen – in meinem Versicherungssenat sind das bisweilen mal 70 bis 100 Seiten – dauert es sehr lange, bis man sie überhaupt durchgelesen hat und in der Lage ist, Hinweise zu geben. Es ist Aufgabe des Gerichts, das Verfahren zu leiten, aber wir brauchen auch strukturierte Vorarbeiten der Parteien. Ich bin auch keine Anhängerin des Basisdokuments…

beck-aktuell: …ein in Bayern und Niedersachen im Pilotverfahren getestetes digitales Dokument, in dem die Parteien unabhängig voneinander vortragen und replizieren können…

Wolff: …aber es würde den Gerichten schon genügen, wenn Anwältinnen und Anwälte gezwungen wären, zwischen Tatsachenvortrag und Rechtsauffassungen klar zu unterscheiden. Derzeit muss ich als Richterin einen seitenlangen Vortrag von Rechtsauffassungen immer noch darauf untersuchen, ob irgendwo noch ein versteckter Tatsachenvortrag drin ist. Oftmals geht das wild durcheinander. Und das kostet enorm viel Zeit.

"…dann brauchen sie auch nicht von Adam bis Eva alles vortragen"

beck-aktuell: Wie würden Sie die Anwältinnen und Anwälte denn dazu bewegen? Schwebt Ihnen eine Art "besseres" Basisdokument vor, in dem es beispielsweise ein Feld für den Tatsachenvortrag und eines für den Parteivortrag gibt?

Wolff: Genau. Und wenn ich als Gericht einen Tatsachenvortrag, der im falschen Feld erwähnt wird, nicht berücksichtige, ist die Entscheidung trotzdem richtig. Das wird sehr viel Zeit sparen, denn so viel Tatsachenvortrag gibt es – ausgenommen Bausachen – meist gar nicht.

Ich will hier auch keine Anwaltsschelte betreiben – ich verstehe schon, warum sie so viel schreiben, schon aus Haftungsgründen. Aber wenn sie darauf vertrauen können, dass sie im Zweifel einen Hinweis des Gerichts bekommen, wenn etwas fehlt, dann brauchen sie auch nicht von Adam bis Eva alles vortragen.

beck-aktuell: Auf Anwaltsseite dürfte der Vorschlag vermutlich dennoch auf wenig Gegenliebe stoßen…

Wolff: Jein. Das Basisdokument ist tatsächlich auf wenig Gegenliebe gestoßen. Aber einer gewissen Strukturierung sähe die Anwaltschaft auch positiv entgegen. Sonst kommen wir bald in die Situation, dass uns Anwältinnen und Anwälte 100 Seiten KI-gestützte Schriftsätze schicken und wir schicken dann auch wieder eine KI drüber, um das Wesentliche rauszufiltern. 

"Zukunft des beA? Wir denken weiter"

beck-aktuell: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Ihres Workshops warben für mehr Mut zum Experimentieren. Könnte KI dennoch ein solches Experiment sein?

Wolff: Ich bin absolut nicht gegen KI, ich probiere sie selbst gerne mal aus. Ich sehe aber – auch auf Dauer – nicht, dass KI eine Richterin oder einen Richter ersetzen kann. Einen Einsatz könnte ich mir aber beispielsweise beim Entwurf von Vergleichsvorschlägen vorstellen, über welche die Parteien dann ja selbst entscheiden können.

beck-aktuell: Wichtige Themen, wenn es um die Zukunft der Justiz geht, sind seit Jahren das beA und die elektronische Aktenführung bei Gericht. Sehen Sie das derzeitige System als zukunftsfähig an?

Wolff: Ich sage mal so: Wir denken weiter. Wenn man schaut, wo wir einmal herkamen, dann waren das beA und die elektronische Aktenführung schon sehr gut. Das hat wirklich vieles beschleunigt. Aber ich kann auch der Idee viel abgewinnen, eine Plattform zu schaffen, auf der die Akte eingestellt wird und wo die Beteiligten jederzeit Einsicht haben. Die Parteien könnten dort Schriftsätze hochladen, zu denen die anderen Beteiligten eine Benachrichtigung bekommen und man könnte auch Termine darüber ausmachen. Natürlich muss dabei die Datensicherheit immer gewährleistet sein.

beck-aktuell: Gibt es noch weitere Dinge, die aus Ihrer Sicht die Effizienz der Justiz voranbringen könnten?

Wolff: Da wäre die Öffentlichkeit der Verhandlung. Da wollen wir im Prinzip nicht dran rütteln, denn es geht ja auch um die Kontrolle der Justiz. Man könnte aber darüber nachdenken, gewisse Vorgespräche oder Vergleichsverhandlungen nichtöffentlich durchzuführen. Damit wäre man viel flexibler. Wenn ich etwas mit den Parteien erörtern will, muss ich erst einen Termin im Sitzungssaal ausmachen, das dauert teilweise sehr lange. Stattdessen könnte man sich für so etwas auch kurzfristig online zusammenschalten.

"In der Vergangenheit hat man nicht immer auf die Justiz gehört"

beck-aktuell: Der Abschlussbericht der Workshops soll Ende des Jahres vorgestellt werden. Was bezwecken Sie damit und gibt es vielleicht eine Zusammenarbeit mit der ZPO-Reformkommission, die im Juli ihre Arbeit aufnehmen soll?

Wolff: Unsere Initiative beruht ja auf einem Beschluss der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs aus dem Mai 2023. Danach haben auch die Justizminister beschlossen, dass sie an die ZPO ranwollen und abgefragt, was dazu unsere Wünsche sind. Wir werden aus dem, was wir nun in Düsseldorf besprochen haben, ein Eckpunktepapier erstellen und auf unserer nächsten Tagung im Mai beschließen. Danach sollen für die einzelnen Eckpunkte konkrete Vorschläge erarbeitet werden. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir dann auch mit der ZPO-Reformkommission zusammenarbeiten. Ich hoffe, dass der Bundesjustizminister das Ziel hat, den Zivilprozess wirklich zu verbessern.

beck-aktuell: Bereits im Jahr 2019 hatte Ihre Konferenz mitunter ähnlich klingende Vorschläge gemacht. Sind Sie denn guter Dinge, dass der Gesetzgeber die Stimme der Justiz diesmal besser hören wird?

Wolff: Schwierige Frage. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat uns ja gleich zu Beginn nach unseren Vorschlägen gefragt. Allerdings war es in der Vergangenheit nicht immer so, dass man auf die Justiz gehört hat – beispielsweise bei der Aussetzung von Instanzverfahren im Fall des Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof, den sogenannten Massenverfahren. Wir haben aber gerade bei unserem Workshop gesehen, dass etwa auch aus dem Bereich der Anwaltschaft und aus der Wissenschaft ein breites Interesse an der Modernisierung des Zivilprozesses gezeigt wird, so dass ich optimistisch bin, dass wir gemeinsam den richtigen Weg finden werden.

Das Interview führte Maximilian Amos.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 22. März 2024.