Diesel, Wirecard, Encrochat - deutsche Justiz am Limit?
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Diesel, Wirecard, Encrochat – die Anzahl der Mammut-Verfahren an deutschen Gerichten steigt seit Jahren. Zeitgleich werden die Forderungen nach personeller Entlastung lauter. Die Richterschaft werde an ihre Belastungsgrenze gebracht und darüber hinaus, so lautet der Vorwurf der Judikative. Wir geben einen Überblick über die wichtigsten Verfahren und Forderungen der Richterschaft.

Landgericht Frankfurt: Über 20.000 Wirecard-Klagen

Aktuell rollt eine Klagewelle auf die Zivilkammern des Landgerichts Frankfurt am Main zu. Zusätzlich zu den etwa 1.500 bereits anhängigen Klagen rund um den insolventen Finanzdienstleister Wirecard sind dem Gericht laut Gerichtspräsident Wilhelm Wolf weitere 20.000 Verfahren angekündigt worden. In der Sache geht es um Schadenersatzansprüche der Aktionäre gegenüber der Bafin wegen fehlender oder unzureichender Aufsichtsführung. "Ich bin in großer Sorge um die weitere Entwicklung des Landgerichts", sagte Wolf gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (F.A.Z.). Das Gericht stehe angesichts der neuen Belastungen und der aktuellen Personallage mit dem Rücken zur Wand – vielleicht sogar an der Wand.

Justizüberlastung durch Dieselfälle und andere Massenklagen

Die erheblichen Herausforderungen durch Massenklagen waren auch ein Themenschwerpunkt auf der 73. Ta­gung der Prä­si­den­tin­nen und Prä­si­den­ten der Ober­lan­des­ge­rich­te, des Kam­mer­ge­richts, des Baye­ri­schen Obers­ten Lan­des­ge­richts und des Bun­des­ge­richts­hofs im Oktober. Selbst bei Ausschöpfung aller organisatorischen, technischen und personellen Möglichkeiten sei insbesondere eine Bewältigung aller Dieselfälle in der gebotenen Qualität und Zeit nicht möglich, so ihr Resümee. Das immense prozessuale Ausmaß des Diesel-Skandals wird auch angesichts der steigenden Prozesskosten deutlich. Diese belaufen sich nach Angaben des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft mittlerweile auf 1,2 Milliarden Euro, der Gesamtstreitwert aller Diesel-Rechtsschutzfälle sei auf 9,8 Milliarden Euro angestiegen.

Strafkammern am Limit

Doch nicht nur die Zivilkammern sind am Limit. Eine Technik zur Entschlüsselung einer speziellen Verschlüsselungssoftware in Handychats ("Encrochat") hat zu zahlreichen neuen und komplizierten Verfahren an den Strafgerichten, insbesondere im BTM-Bereich, geführt. Während einige Bundesländer wie Berlin, Hamburg und Leipzig auf anstehende Encrochat-Verfahren bereits reagiert und neue Strafkammern eingerichtet haben, ist in Hessen offenbar noch keine personelle Aufstockung in Sicht. Die Richterinnen und Richter am Landgericht Frankfurt am Main leisten bereits jetzt 20% mehr als im Personalschlüssel vorgesehen sei, erklärt Gerichtspräsident Wolf gegenüber der F.A.Z. Es fehlten insgesamt 30 Richterinnen und Richter oder zehn Kammern.

Brandbrief der Richterschaft

Schon Ende Oktober haben neun Vorsitzende Richterinnen und Richter am Landesgericht Augsburg auf die Missstände ihrer Berufssparte aufmerksam zu machen versucht, wie ebenfalls die F.A.Z. berichtete. Ihre Botschaft: Die vielen Massenverfahren, insbesondere zum Diesel, zu Widerrufen von Bankdarlehen sowie zu Klagen gegen Beitragserhöhungen in der privaten Krankenversicherung, hätten Richterinnen und Richter mürbe gemacht. Es sei nicht der Rechtsstaat, der droht Schaden zu nehmen, es sei die psychische Gesundheit und die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Justiz.

Gerichtspräsidenten wollen Musterfeststellungsklagen anpassen

Wie mit diesen steigenden Belastungen umgegangen werden soll, ist bislang ungeklärt. Nach Ansicht der Teilnehmenden der 73. Tagung der obersten Zivilrichterschaft tragen die herkömmlichen Verfahren der Musterfeststellungsklagen nicht zu den gebotenen schnellen Lösungen von Rechtsfragen bei und erfüllen die Erwartungen der Verkehrskreise nicht. Hier sei daher eine schnelle Herstellung der Handlungsfähigkeit de Gerichte durch ergänzende gesetzgeberische Maßnahmen geboten. Diese müssten auch die Veränderungen des Rechtsdienstleistungsmarktes in den Blick nehmen. Änderungen müssten spätestens mit der Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie durchgesetzt werden. Darüber hinaus wird eine Förderung der Digitalisierung gerichtlicher Verfahren befürwortet. Eine enge Beteiligung der Praxis hierbei sei unumgänglich.

Landes-Justizminister wollen Verlängerung des Pakts für den Rechtsstaat

Anfang November haben die Justizministerinnen und -minister einen Stärkungspakt der Justiz beschlossen. Sie wiesen darauf hin, dass eine dauerhafte und nachhaltige Weiterfinanzierung der im Rahmen des Paktes für den Rechtsstaat zur Personalverstärkung eingerichteten Planstellen und Stellen bislang nicht Gegenstand des Paktes gewesen sei. Diese solle nunmehr zum Gegenstand eines erneuerten Pakts für den Rechtsstaat gemacht werden. Vor diesem Hintergrund forderten sie die Bundesregierung auf, zeitnah in Verhandlungen mit den Ländern über eine Verlängerung des finanziellen Engagements des Bundes und eine Weiterentwicklung des Paktes für den Rechtsstaat einzutreten. Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) forderte, in den Pakt auch die Anwaltschaft einzubeziehen, die als größte Berufsgruppe im Rechtswesen Garant für den Zugang zum Recht sei. In diesem Zusammenhang schlug die Anwaltschaft erneut einen Digitalpakt – auch diesen unter ausdrücklicher Einbeziehung der Anwaltschaft – als Bestandteil des neuen Pakts vor.

Digitalisierung: Die Lösung aller Probleme?

Während die Justizministerinnen und Justizminister die Forderungen der Anwaltschaft weitestgehend unkommentiert ließen, so haben sie zumindest den Einsatz digitaler Systeme zur Unterstützung der Richterschaft, insbesondere bei Fluggastrechteklagen, diskutiert. Der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht München Nikolaus Stackmann bezweifelt im Interview mit beck-aktuell einen entsprechenden Mehrwert in Masseverfahren. Insbesondere hinsichtlich der Überlegung, dass Parteivertreter ihren Vortrag nach den Vorgaben des Gerichts in eine Gliederung nach Art der Relationstechnik eingeben sollen, zeigte er sich skeptisch, da die Sanktionierung von Verstößen gegen solche Vorgaben nicht möglich sei. Die Möglichkeit, Schriftsätze maschinell lesen zu lassen, ersetze nicht die zwingend erforderliche persönliche Kenntnisnahme durch den Richter, sondern ermögliche allenfalls über entsprechende Funktionen ein schnelleres Aufsuchen von bestimmten Textpassagen.

Intelligente Software soll Arbeit erleichtern

Demgegenüber brachten die Präsidentinnen und Präsidenten der obersten Gerichte ihre Zuversicht ob der Digitalisierung der Justiz zum Ausdruck. Insbesondere intelligente Software könne die Arbeit der Gerichte im Vorfeld der richterlichen Tätigkeit sinnvoll unterstützen. Die Einführung der elektronischen Akte, die bereits heute in weitem Umfang die herkömmliche Papierakte ersetze, biete insoweit vielfältige Einsatzmöglichkeiten, etwa beim Zuordnen digital eingehender Schriftsätze und beim Anlegen der elektronischen Akte. Einen “Rechtsprechungsautomaten“ schlossen sie jedoch auch für die Zukunft aus.

Beschleunigung durch Vorabentscheidungsverfahren beim BGH

Eine weitere Möglichkeit, Masseverfahren zu beschleunigen, ist eine Vorabentscheidung durch den Bundesgerichtshof. Dieses Thema beschäftige Praxis und Wissenschaft seit der Einführung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz im Jahr 2005, so Stackmann. Soweit vertreten werde, dass das KapMuG deutliche Effektivierungen ermöglicht habe, teile er diese Einschätzung nicht. Es sei bekannt, dass Verfahren aus der Anfangszeit des Gesetzes nach wie vor anhängig seien, etwa die zum dritten Börsengang der Telekom. Im KapMuG-Verfahren der Telecom findet nun am 23.11.2021 ein Termin zur Vergleichserörterung am Oberlandesgericht Frankfurt statt. Im Zusammenhang mit dem 3. Börsengang hatten über 16.000 Anleger geltend gemacht, dass der Prospekt der Telekom unrichtig gewesen sei und auf Schadensersatz vor dem Landgericht Frankfurt am Main geklagt. Dieses hat 2006 einen Vorlagebeschluss nach dem KapMuG gefasst. Der erste Musterentscheid des Oberlandesgerichts vom 16.05.2012 war vom Bundesgerichtshof 2014 teilweise aufgehoben worden. Der darauf abgefasste zweite Musterentscheid des Oberlandesgerichts vom 30.11.2016 ist vom Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 15.12.2020 in einem Punkt aufgehoben worden; der Rechtsstreit wurde wegen eines noch streitigen Punktes zur Beweisaufnahme an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Redaktion beck-aktuell, 22. November 2021.