Interview
Unter Massenlast
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Die Gerichte sind durch sogenannte Massenverfahren stark belastet. Exemplarisch steht hierfür der Dieselskandal, der auch nach ersten Leitentscheidungen des BGH noch lange nicht abgearbeitet ist. Ebenfalls für eine hohe Auslastung sorgen Fluggastrechteklagen sowie Widerrufe von Versicherungs- und Bankverträgen. Zuletzt hat sich die Justizministerkonferenz mit der Frage befasst, wie die Gerichte hiermit besser umgehen können. Hierzu haben wir den Vorsitzenden Richter am OLG München Dr. Nikolaus Stackmann befragt, dessen Senat mit vielen Massensachverhalten befasst ist.

26. Jul 2021

NJW: Mit welchen Verfahren sind Sie gerade beschäftigt, und wie ist die Belastungssituation in Ihrem Senat?

Stackmann: Bei meinem mit insgesamt vier Vollzeitrichterstellen ausgestatteten Senat hatten wir bis Ende 2018 einen Jahreseingang von etwa 200 Sachen. Ab 2019 haben sich die Eingänge nahezu verdoppelt. Das liegt im Wesentlichen daran, dass einerseits eine hohe Anzahl von Berufungen betreffend den Widerruf von Kfz-Finanzierungsverträgen eingeht und andererseits eine noch weit höhere Anzahl von Berufungen im Zusammenhang mit dem Dieselskandal.

NJW: Wie sieht es ansonsten am Gericht aus?

Stackmann: Die Senate, die über Berufungen gegen Urteile eines bestimmten Landgerichts zu entscheiden haben, sind im Zuge des Dieselskandals ganz erheblich belastet. Unter anderem haben sich die Eingangszahlen eines Landgerichts nahezu verdreifacht. Dies zieht – natürlich – eine nicht vorhergesehene große Anzahl an Rechtsmitteln nach sich, die ohne Entlastung immer denselben, insoweit allein zuständigen Senat treffen. Betroffene Senate müssen daher durch das Präsidium entlastet werden, was logischerweise andere Senate trifft, die selbst aber auch deutlich überlastet sind. In der Konsequenz verlängert sich die Bearbeitungszeit von Berufungen und Beschwerden deutlich.

NJW: Sind die Dieselfälle nicht häufig so gleichgelagert, dass sie sich inzwischen gut standardisiert abarbeiten lassen müssten? Konkret: Hat man inzwischen nicht genug Textbausteine für alle Konstellationen?

Stackmann: Der Vermutung, dass sich uniforme Klagen jeweils durch ebenso uniforme Textbausteine abarbeiten lassen, muss ich eine klare Absage erteilen. Zivilprozesse sind nach wie vor Unikate, der Richter muss sich mit jeder einzelnen Klage beschäftigen und natürlich jeden einzelnen Schriftsatz lesen. Dabei zeigt die Erfahrung, dass Klagen betreffend Massensachverhalte zwar uniform eingereicht werden mögen, sich aber dennoch jeder Einzelfall jedenfalls in Nuancen unterscheidet. Beispielsweise kann sich bei der Manipulation von Dieselmotoren die Frage nach deren Kausalität für die Kaufentscheidung durchaus unterschiedlich stellen. Ähnlich verhält es sich mit der Annahme, dass sämtliche Kfz-Finanzierungsverträge den mehr oder minder gleichen Wortlaut haben und sich daher lediglich die Frage stellt, ob diese jedenfalls dem Muster Anlage 7 zu Art. 247 §§ 6, 12 EGBGB entsprechen. Mir ist noch nie eine Konstellation untergekommen, in der über zwei Klagen sinn- und wortgleich zu entscheiden gewesen wäre, weil der diesen zugrunde liegende Sachverhalt bis ins Detail deckungsgleich war.

NJW: Gibt es unabhängig von der schieren Masse besondere Herausforderungen bei diesen Verfahren?

Stackmann: Ich habe seit etwa 2005 Erfahrungen mit Klagen aufgrund von Massensachverhalten. Dies waren zunächst Anlagen in geschlossenen Fonds, später der Widerruf von Krediten und aktuell besonders Dieselfälle. In der Anfangszeit der Auseinandersetzungen über Publikumsfonds gab es – wie heute – Kanzleien, die eine große Anzahl von Klägern vertreten haben, während auf der Beklagtenseite häufig nur eine KanzIei agiert hat. Fanden Termine statt, in denen die Kläger persönlich gehört und Zeugen vernommen wurden, waren durchweg (Haupt-)Parteivertreter vor Ort, die in der Sache informiert und auch in der Lage waren, individuelle Vergleichsverhandlungen zu führen. Das hat sich insbesondere in den Dieselfällen geändert: Hier erscheinen auf der Klageseite immer wieder Unterbevollmächtigte, die weder in der Sache informiert sind noch Konstruktives zu Vergleichsgesprächen beitragen können. Häufig erklären sie, auf Weisung des Hauptbevollmächtigten keinem Vergleichsschluss zustimmen zu können. Das ist aber nur ein gradueller Unterschied zu dem Verhalten der Beklagtenseite, die häufig auch auf Unterbevollmächtigte zurückgreift. Diese sind zwar in der Regel besser informiert. Das ändert aber nichts daran, dass auch sie selten bis nie in der Lage sind, Aussagen zu Vergleichsvorschlägen des Gerichts zu machen, sondern sich darauf berufen, dass es eine Generalsstrategie der die diversen Hauptbevollmächtigten anleitenden Kanzlei gebe, nach der eine genau bezifferte Abfindung nicht um ein µ geändert werden könne.

NJW: Die Justizminister haben auf ihrer Frühjahrskonferenz den Einsatz digitaler Systeme zur Unterstützung der Richter insbesondere bei Fluggastrechteklagen diskutiert. Würde das in Massenverfahren helfen?

Stackmann: Ob digitale Systeme bei Fluggastrechteklagen etwas nützen, kann ich aus eigener Erkenntnis nicht beurteilen. Soweit ich weiß, sind auch Planungen im Gange, nach denen die Parteivertreter ihren Vortrag nach den Vorgaben des Gerichts in eine Gliederung nach Art der Relationstechnik eingeben sollen. Hier habe ich Zweifel, weil die Sanktionierung von Verstößen gegen solche Vorgaben nicht möglich ist. Denn Parteivortrag muss inhaltlich zur Kenntnis genommen werden, das gilt beispielsweise auch für aus Sicht des Richters kaum lesbare Schriftstücke. Deshalb kann ich mir nur schwer vorstellen, dass sich ein Richter darauf verlassen kann, wenn er an der von ihm für einschlägig gehaltenen Stelle der Ausführungen der Partei „nichts findet“, dass hierzu nichts an anderer Stelle steht: Er wird sich also immer der Mühe unterziehen müssen, das Vorbringen der Parteien insgesamt zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass es den Gerichten substanziell weiterhelfen würde, wenn sie – ähnlich wie gut ausgestattete Kanzleien – die Möglichkeit hätten, Schriftsätze maschinell lesen zu lassen. Denn das ersetzt nicht die zwingend erforderliche persönliche Kenntnisnahme durch den Richter, sondern ermöglicht allenfalls über entsprechende Funktionen ein schnelleres Aufsuchen von bestimmten Textpassagen.

NJW: Außerdem könnte aus Sicht der Justizminister ein Vorabentscheidungsverfahren beim BGH zur beschleunigten Klärung von grundsätzlichen Rechtsfragen helfen. Was halten Sie davon?

Stackmann: Die Frage, wie Massensachverhalte durch Vorabentscheidungen bewältigt werden können, beschäftigt Praxis und Wissenschaft nun mindestens seit der Einführung des KapMuG im Jahr 2005. Soweit vertreten wird, dass das KapMuG deutliche Effektivierungen ermöglicht hat, teile ich diese Einschätzung nicht. Es ist bekannt, dass Verfahren aus der Anfangszeit des Gesetzes nach wie vor anhängig sind, etwa die zum dritten Börsengang der Telekom und zu der in der Finanzkrise gestrauchelten HRE. Bedenkt man, dass die ausgesetzten Verfahren mit der rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele nicht abgeschlossen sind, zeigt sich, dass wegen der Schaffung des KapMuG Euphorie nicht angebracht ist.

NJW: Gilt das auch für die Musterfeststellungsklage? Konkret: Hat sie die Erwartungen erfüllt?

Stackmann: Ich habe zwei Musterfeststellungsverfahren bearbeitet. Diese ließen sich – weil der Streitgegenstand begrenzt war – innerhalb eines Zeitraums von unter einem Jahr erledigen. Wenn ich die Presseberichte zur Musterfeststellungsklage gegen VW in Braunschweig richtig deute, darf man davon ausgehen, dass durch die Arbeit der dortigen Kollegen und die Einigung der Parteien eine Vielzahl von weiteren Gerichtsverfahren im Zuge der Dieselaffäre vermieden worden ist. Deshalb kann man wohl von einem diesbezüglichen Erfolg sprechen. Skeptisch lässt mich werden, dass entgegen der weit höheren Prognose des Gesetzgebers bisher nur ein gutes Dutzend Verfahren in das Klageregister beim Bundesjustizamt eingetragen ist.

NJW: Was würde helfen, um der Massenverfahren besser Herr zu werden?

Stackmann: In der aktuellen Situation bedarf es dringend eines Mittels, um zu bindenden Vorabentscheidungen in Parallelsachverhalten zu kommen. Die Gerichte bearbeiten im Zuge des Dieselskandals derzeit nicht nur die Folgen der Manipulation des Motors „EA 189“, sondern entsprechende Vorwürfe wegen vieler anderer Motortypen diverser Hersteller. Insofern wäre ein Instrument erforderlich, das es dem einzelnen Richter ermöglicht, entweder selbst eine bindende Vorabentscheidung zu treffen oder aber die rechtskräftige Entscheidung von Parallelverfahren zu demselben Motor abzuwarten. Das geht derzeit nicht, weil in solchen Fällen eine Aussetzung nach § 148 ZPO nicht möglich ist und die Einleitung eines Musterfeststellungsverfahrens allein in den Händen der musterklagebefugten Institutionen liegt. Angesichts der Vielzahl von unterschiedlichen Motortypen sowie der Kosten- und Haftungsrisiken wird kaum jemand bereit sein, Musterfeststellungsklagen zu erheben.

Interview: Tobias Freudenberg.