Es ist ein wenig paradox: Seit Juni ist eine hochumstrittene Reform des Wahlgesetzes zur Verkleinerung des Bundestages in Kraft. Klagen dagegen sind in Karlsruhe schon anhängig. Aber erstmal musste das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 29.11.2023 – 2 BvF 1/21) über die Vorgängerreform entscheiden. Diese hatte die damalige schwarz-rote Koalition durchgesetzt. Dagegen klagten gemeinsam 216 Abgeordnete von FDP, Grünen und Linken, die damals alle in der Opposition waren.
Deren abstrakte Normenkontrolle wendet sich gegen Art. 1 Nr. 3 bis 5 des 25. Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 14.11.2020 (BWahlGÄndG). Durch die zur Überprüfung gestellten Bestimmungen in §§ 6 Abs. 5 und 6, 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG wurden das Verfahren der Sitzzuteilung bei der Bundestagswahl sowie die Regelung für die Berufung von Listennachfolgern geändert. Ziel der Reform war es, den nach der Bundestagswahl 2017 durch Überhang- und Ausgleichsmandate auf 709 Abgeordnete angewachsenen Deutschen Bundestag künftig wieder kleiner werden zu lassen.
Nachdem bereits im Jahr 2021 ein Eilantrag erfolglos geblieben war, hat das BVerfG jetzt den zulässigen Normenkontrollantrag als unbegründet abgelehnt. Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG sei sowohl mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot als auch mit den Grundsätzen der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien vereinbar. Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen.
Regelungen ausreichend bestimmt und klar
Die allgemeinen Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit von Gesetzen gölten auch für wahlrechtliche Normen , betont das BVerfG in seinem Urteil. Nach Ansicht des Gerichts erfüllen § 6 Abs. 5 und 6, § 48 BWahlG diese Kriterien. Eine andere verfassungsrechtliche Bewertung folge nicht daraus, dass wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger allein auf Grundlage des Gesetzestextes ohne Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen nicht in der Lage sein dürften, die Bestimmungen im Einzelnen zu erfassen. Die Normen seien primär an die Wahlorgane als Rechtsanwender gerichtet, nicht hingegen unmittelbar an die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger.
Es sei hinnehmbar, die Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens so zu fassen, dass die damit betrauten Wahlorgane sie ordnungsgemäß anwenden, wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger sie aber in der Regel nicht allein aufgrund des Normtextes, sondern erst unter Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen im Einzelnen erfassen können.
Der Gesetzgeber habe sich in verfassungskonformer Weise für eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl entschieden. In einem solchen Wahlsystem sei ein gewisses Maß an Komplexität des Sitzzuteilungsverfahrens nicht zu vermeiden. Hinzu komme, dass der Gesetzgeber sich für einen Ausgleich von Überhangmandaten entschieden habe und deshalb die Sitzzahl des Deutschen Bundestages nicht als absolute Größe im Gesetz festgelegt sei.
Erfahrungen aus vorangehenden Wahlen hilfreich
Mit Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG sei überdies kein neues Wahlsystem etabliert worden. Wählerinnen und Wähler könnten daher auf Erfahrungen und die Praxis vorangehender Wahlen auch für das Verständnis der Neuregelung zurückgreifen, betont das BVerfG.
Auch das durch das BWahlGÄndG geänderte Sitzzuteilungsverfahren ist nach Ansicht des BVerfG rechtens. Indem § 6 Abs. 6 Satz 3 BWahlG die Zuteilung von bis zu drei Überhangmandaten ohne Ausgleich erlaube, werde zwar in die Wahlgleichheit sowie die Chancengleichheit der Parteien eingegriffen. Die Zulassung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten sei aber geeignet und erforderlich, um das Ziel der Aufrechterhaltung und Stärkung des Elements der Personenwahl zu erreichen.
Die Neuregelung bewege sich innerhalb des dem Gesetzgeber eröffneten Gestaltungskorridors zur Schaffung eines personalisierten Verhältniswahlrechts. Ob es sich bei der Zulassung der Überhangmandate um eine bewusst herbeigeführte Konsequenz oder nur um eine ungewollte Nebenfolge der gesetzgeberischen Systementscheidung handele, sei ohne Belang.
Ausgleichslose Überhangmandate mit Wahlgleichheit vereinbar
Soweit es § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG in Verbindung mit § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG erlaube, Direktmandate einer Partei mit Listenmandaten derselben Partei in einem anderen Land zu verrechnen, sei damit ebenfalls eine Beeinträchtigung der Wahlgleichheit verbunden, die durch das verfassungslegitime Anliegen einer Stärkung der Personenwahl gerechtfertigt sei.
Ungeachtet der unterschiedlichen Auffassungen zu der Frage, inwieweit sich aufgrund des BWahlGÄndG Fälle des negativen Stimmgewichts ergeben können, sei davon auszugehen, dass dieser Effekt jedenfalls nicht in verfassungsrechtlich relevanter Weise auftreten könne. Zwar gehe mit der Zulassung ausgleichsloser Überhangmandate einher, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen für eine Partei dazu führen könne, dass ein ausgleichsloses Überhangmandat wegfalle. Ein derartiger Stimmenzuwachs führe aber nicht dazu, dass die betroffene Partei erwartungswidrig Mandate verlöre.
Vielmehr bliebe die Zahl der auf sie entfallenden Mandate gleich, und es würde lediglich ein ausgleichsloses Überhangmandat durch ein mit Zweitstimmen unterlegtes Direktmandat ersetzt. Ein widersinniger, dem Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl widersprechender Effekt zum Nachteil der von dem Zweitstimmenzuwachs betroffenen Partei wäre damit nicht verbunden. Gleiches gelte für den umgekehrten Fall, dass der Verlust von Zweitstimmen dazu führen könne, dass ein unausgeglichenes Überhangmandat anfalle.
Sondervotum: Bürger als "Quelle demokratischer Legitimation" missachtet
Auch wenn das BVerfG heute die Reform mit einer Mehrheit von 5:3 Stimmen als rechtens bestätigt hat, zeigten sich drei Richterinnen und Richter von den Argumenten der Senatsmehrheit nicht in allen Punkten überzeugt. Vizepräsidentin Doris König sowie die Richter Ulrich Maidowski und Peter Müller gaben ein Sondervotum ab. Die Entscheidung der Senatsmehrheit erfasse Inhalt und Bedeutung des verfassungsrechtlichen Gebots der Normenklarheit im Wahlrecht nur unzureichend, monierten die drei Richter.
Den Wahlberechtigten werde im Ergebnis eine Wahrnehmung ihres fundamentalen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung "im Blindflug" zugemutet. "Dies entspricht nicht der zentralen demokratischen Dignität des Wahlaktes und verwehrt den Wählerinnen und Wählern die ihnen in ihrer Rolle als Quelle demokratischer Legitimation zukommende Achtung."
Die Entscheidung werde den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die sich aus dem Demokratie- in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergeben, nicht gerecht. Danach müsse das Wahlrecht aus sich heraus so verständlich sein, dass die Wahlberechtigten in der Lage sind, eine freie und selbstbestimmte Wahlentscheidung in Kenntnis der möglichen Konsequenzen ihrer Stimmabgabe für die Zusammensetzung des Parlaments zu treffen. Davon ausgehend seien die zur Überprüfung gestellten Regelungen verfassungswidrig.
Kritik auch an neuer Wahlrechtsreform
Mittlerweile hat die aktuelle Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP eine eigene Wahlrechtsreform auf den Weg gebracht. Sie geht noch deutlich weiter als die Vorgängerreform und wird von der jetzigen Opposition heftig kritisiert. Mehrere Klagen dagegen sind schon vor dem BVerfG anhängig – eine des Freistaats Bayern und der CSU und eine weitere des Vereins "Mehr Demokratie".
Vor diesem Hintergrund hatten FDP, Grüne und Linke dann auch einen Antrag gestellt, ihr Verfahren zur Vorgänger-Reform ruhen zu lassen. Sie waren der Ansicht, dass sich die Sache erledigt habe. Die Richter und Richterinnen sahen das aber anders und wiesen den Antrag im März zurück – an der Fortführung des Verfahrens bestehe ein öffentliches Interesse.
Hinweis der Redaktion: Die aktuelle Fassung dieser Meldung ersetzt eine direkt nach der Urteilsverkündung erschienene kürzere Version.