Es könnte der Anfang vom Ende der Singularzulassung für BGH-Anwältinnen und -Anwälte sein, schrieben wir in der vergangenen Woche. Denkbar knapp hätten die 28 Anwaltskammern für die Einführung eines BGH-Fachanwaltstitels gestimmt, der die Sonderzulassung ablösen soll.
Knapp war es allemal. Doch nun stellt sich heraus, dass das Ergebnis womöglich falsch war: Es ist nicht klar, ob die 28 Anwaltskammern wirklich mehrheitlich für den Antrag der Rechtsanwaltskammer (RAK) Berlin gestimmt haben, der die Vertretung in Zivilsachen vor dem BGH öffnen will. Eine Blamage für das Gremium und die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK).
Was bisher geschah
Der oder die Fehler sind offenbar auf die neuen Abstimmungsregeln zurückzuführen, die größeren Kammern mehr Gewicht verleihen als den kleineren. 2019, zum Zeitpunkt der letzten – abgelehnten – Abstimmung über die Abschaffung der Singularzulassung, war noch jede Kammer mit einer Stimme ausgestattet. Nach dem 2022 erneuerten § 190 BRAO haben die Kammern nun aber zwischen einer und neun Stimmen, je nach Anzahl ihrer Mitglieder. Die kleine Kammer beim BGH hat demnach nur eine Stimme.
Nach einer Diskussion, bei der die Reformer, die hinter dem Antrag der RAK Berlin standen, sich wohl eher zurückhielten, waren viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer dem Vernehmen nach überrascht, als es hieß, der Antrag der RAK Berlin sei mit 48 zu 46 Stimmen bei 9 Enthaltungen angenommen worden. Eine kleine Revolution, der die BRAK selbst offenbar nicht allzu viel abgewinnen kann. Der Dachverband der Anwaltskammern tut sich traditionell mit der Abschaffung der Singularzulassung schwer. Hauptorgan der BRAK ist aber die Hauptversammlung aus den Präsidentinnen und Präsidenten der 28 regionalen Anwaltskammern, sie fasst die grundlegenden Beschlüsse, die das BRAK-Präsidium umsetzt.
So wies die BRAK in einer denkbar wortkargen Pressemitteilung auf die "knappe" Mehrheit in der 167. Hauptversammlung dafür hin, sich für die Einführung einer BGH-Fachanwaltschaft statt des umstrittenen aktuellen Verfahrens zur Aufnahme in die geschlossene Gruppe der BGH-Anwältinnen und Anwälte einzusetzen. Sie betonte außerdem, dass die knappe Mehrheit durch die neue Stimmgewichtung zustande gekommen sei.
Berufsausübungsgesellschaften versehentlich mitgerechnet
Mit ebendieser Stimmgewichtung gab es aber nun ein Problem. Dabei regelt § 190 BRAO klar, welche Kammern in der Hauptversammlung über wie viele Stimmen verfügen: Die Stimme einer RAK mit bis zu 1.000 Mitgliedern zählt einfach, die einer Kammer mit mehr als 20.000 Mitgliedern neunfach, dazwischen gibt es eine klare Staffelung, für die die zu Jahresbeginn ermittelten Mitgliederzahlen auschlaggebend sind. Doch bei der Abstimmung sind die Kammern Frankfurt und Berlin nun jeweils mit einer Stimme mehr gewichtet worden, als ihnen zustünde (Frankfurt 9 statt 8, Berlin 8 statt 7).
Die Erklärung dafür findet sich in § 190 Abs. 1 S. 2 BRAO. Laut der Vorschrift bleiben Berufsausübungsgesellschaften bei der Ermittlung der Mitgliederzahl unberücksichtigt. Nach Angaben einer Sprecherin der BRAK wurde das elektronische Wahlsystem aber insoweit fehlerhaft konfiguriert. Ausgewirkt hat sich das nach Angaben der BRAK nur bei den RAK Frankfurt und Berlin. In Frankfurt gab es zum Ende des Jahres 2023 402 Berufsausübungsgesellschaften – zieht man diese von ihren 20.179 Mitgliedern ab, landet man unter der 20.000er-Grenze, also nur noch bei acht statt der gezählten neun Stimmen. Die Anwaltskammer Berlin verfügte Anfang 2024 über 15.287 Mitglieder, davon 422 Berufsausübungsgesellschaften. Sie liegt damit unter der Grenze von 15.000 Mitgliedern und hat nur sieben statt der gezählten acht Stimmen.
Alles nochmal neu
Damit kann das denkbar knappe Ergebnis von zuvor 48 zu 46 Stimmen für den Antrag aus Berlin kippen, Beschlüsse der Hauptversammlung brauchen eine einfache Stimmmehrheit. Die Abstimmungen erfolgen aber nicht namentlich, so dass nicht bekannt ist, wie die Kammer Frankfurt abgestimmt hat. Wenn sich neben der antragstellenden Rechtsanwaltskammer Berlin auch die Kammer Frankfurt für den Antrag ausgesprochen hätte, hätte das Ergebnis mit korrekter Stimmengewichtung 46 Ja-Stimmen, 46-Nein-Stimmen und 9 Enthaltungen ergeben – der Antrag wäre mangels Mehrheit abgelehnt worden.
Das Präsidium der BRAK sieht nach Angaben der Sprecherin gegenüber beck-aktuell in dem Beschluss deshalb ein "relevantes fehlerhaftes Abstimmungsergebnis", das nicht durch den Präsidenten der BRAK berichtigt werden könne. Eine solche Korrekturbefugnis sei gesetzlich nicht vorgesehen. Ein fehlerfreier Beschluss könne, so die Sprecherin, nach Auffassung des Präsidiums lediglich durch eine erneute Abstimmung erreicht werden. "Das Präsidium der BRAK hat die Rechtsanwaltskammern bereits entsprechend informiert; die Entscheidung über das weitere Vorgehen obliegt der Hauptversammlung".
Es bleibt abzuwarten, ob der Berliner Antrag auch bei korrekter Gewichtung eine Mehrheit finden und die BRAK dem BMJ vorschlagen wird, dass zukünftig alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte vor dem BGH in Zivilsachen auftreten dürfen sollen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Für den Moment ist die kleine Sensation ausgeblieben, aus Gründen, die das Vertrauen der Anwaltschaft in ihre Selbstverwaltung kaum stärken dürften.