Die Verwalterin saß mutterseelenallein im Versammlungsraum, als im November 2020 eine Eigentümerversammlung tagte. Denn das "Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie" (COVMG) hatte zwar den Umgang mit der allgemein durch das Infektionsschutzrecht verordneten Quarantäne geregelt. Für das Wohnungseigentumsrecht stellte es aber lediglich klar, dass der zuletzt bestellte Verwalter bis zu seiner Abberufung oder bis zur Bestellung eines neuen Verwalters im Amt bleibt; Ähnliches galt für den Wirtschaftsplan. Doch zugleich schrieb das Wohnungseigentumsgesetz weiterhin vor, dass die Gemeinschaftsmitglieder mindestens einmal im Jahr und außerdem bei bestimmten Anlässen tagen.
Nur fünf der insgesamt 24 Eigner hatten im Streitfall der Verwaltungsfirma Vollmachten sowie Weisungen zugeschickt. Persönlich kommen durfte niemand. Einige Eigenheimer hatten das Formular zur Bevollmächtigung hingegen nicht ausgefüllt und zogen nun gegen die gefassten Entscheidungen zu Felde. Das LG Frankfurt a.M. schlug sich ganz auf die Seite dieser abwesenden Gemeinschaftsangehörigen: Die Nichtigkeit der Beschlüsse ergebe sich aus einer Verletzung des individuellen Rechts eines jeden Eigentümers auf persönliche Anwesenheit an einer Versammlung. Das Einladungsschreiben habe nur so verstanden werden können, dass eine eigene Teilnahme an der Zusammenkunft nicht möglich sei und somit die Ausübung des Teilhabe- und Stimmrechts allein durch eine Bevollmächtigung der Verwalterin erfolgen könne. Darin sahen die Landrichter der Mainmetropole eine "Ausladung" und einen Eingriff in den unantastbaren Kernbereich des Wohnungseigentumsrechts.
"Verstoß gegen das Wohnungseigentumsgesetz"
Anders nun der V. Zivilsenat des BGH (Urteil vom 8.3.2024 - V ZR 80/23). Die Art der Einberufung und Abhaltung der Eigentümerversammlung habe zwar nicht den Vorgaben des Gesetzes entsprochen, urteilte er: "Eine Eigentümerversammlung setzt grundsätzlich ein physisches Zusammentreffen der Wohnungseigentümer voraus", schrieb er in einer Mitteilung. An sich könne eine sogenannte Vertreterversammlung, in der wie hier nur eine einzige Person anwesend sei, die neben der Versammlungsleitung die Vertretung der abwesenden Eigentümer übernehme, durchaus Beschlüsse fassen – zulässig sei das aber nur dann, wenn sämtliche Immobilieneigner einwilligen. Und das war hier eben nicht der Fall. "Aufgrund der fehlenden Zustimmung aller Wohnungseigentümer hätte die Versammlung wohnungseigentumsrechtlich in Präsenz der Wohnungseigentümer stattfinden müssen", stellen die obersten Zivilrichter fest.
Aber: Zur Nichtigkeit der Beschlüsse habe dieser Verstoß nicht geführt. Nichtig sei ein Beschluss nach § 23 Abs. 4 WEG nämlich nur dann, wenn er gegen eine Rechtsvorschrift verstoße, auf deren Einhaltung rechtswirksam nicht verzichtet werden kann. Zwar könne sich dies auch daraus ergeben, dass er in den Kernbereich des Wohnungseigentums eingreift, wozu unentziehbare und unverzichtbare Individualrechte gehören. "Diese Rechtsprechung betrifft aber den Inhalt von Beschlüssen, während es hier um das Zustandekommen der Beschlüsse geht." Und bei der Beschlussfassung ist dem Urteil zufolge das Teilnahme- und Mitwirkungsrecht der Wohnungseigentümer verzichtbar.
"Unauflösbares Dilemma"
"Während der Corona-Pandemie befand sich der Verwalter in einer unauflöslichen Konfliktsituation", räumen die Karlsruher Richter ein: "Er stand nämlich vor dem Dilemma, entweder das Wohnungseigentumsrecht oder das Infektionsschutzrecht zu missachten." In dieser Ausnahmesituation erfolge die Durchführung einer Vertreterversammlung regelmäßig aus Praktikabilitätserwägungen. Schließlich habe es auch im Interesse der Eigentümer gelegen, dass der Verwalter nicht, wie es teilweise gehandhabt wurde, unter Missachtung des Wohnungseigentumsrechts während der Corona-Pandemie gar keine Zusammenkunft abhielt. Durch eine Vertreterversammlung sei jedenfalls die Fassung von Beschlüssen ermöglicht worden, die der gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden konnten: Die Eigentümer konnten sich bei der Stimmabgabe durch den Verwalter vertreten lassen und diesem jeweils konkrete Weisungen erteilen, wie er in der Versammlung abstimmen sollte.
Allerdings hält der Senat es durchaus für denkbar, dass die Beschlüsse hätten angefochten werden können. Doch die dafür maßgebliche Frist von einem Monat hatten die oppositionellen Kläger versäumt. "Die Frage, ob sich allein daraus, dass die Wohnungseigentümer an der Eigentümerversammlung nur durch Erteilung einer Vollmacht an den Verwalter teilnehmen konnten, ein Beschlussanfechtungsgrund ergibt, bedurfte wegen der versäumten Anfechtungsfrist keiner Entscheidung", teilte er mit. So hatte es bereits in der ersten Instanz das AG in der Bankencity gesehen und die Beschlussmängelklage aus diesen formalen Erwägungen heraus abgeschmettert.
Für den Fall einer neuen Pandemie hat die Politik immerhin vorgesorgt: Im Januar hat der Bundestag in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Zulassung virtueller Wohnungseigentümerversammlungen beraten. Darin heißt es: "Die Wohnungseigentümer können mit mindestens drei Vierteln der abgegebenen Stimmen beschließen, dass die Versammlung innerhalb eines Zeitraums von längstens drei Jahren ab Beschlussfassung ohne physische Präsenz der Wohnungseigentümer und des Verwalters an einem Versammlungsort stattfindet oder stattfinden kann." Eine solche "virtuelle Wohnungseigentümerversammlung" müsse allerdings hinsichtlich der Teilnahme und Rechteausübung mit einer Präsenzversammlung vergleichbar sein. Mehr Aufmerksamkeit bekam das Reformwerk freilich unter einem anderen Aspekt: Es soll auch den Einsatz von sogenannten Steckersolargeräten auf dem Balkon von Mietwohnungen erleichtern.