"Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen." Dieser geläufige Spruch stimmt zwar sowieso nur sehr begrenzt. Hier aber hat er sich als absolut unzutreffend erwiesen: Der BGH hat den Vergleich des VW-Konzerns mit ehemaligen Top-Managern und ihrer Haftpflichtversicherung im Skandal um den überhöhten Schadstoffausstoß vieler Dieselautos verworfen. Wohlgemerkt: Er hat nicht gesagt, der einstige Boss von Europas größtem Autobauer, Martin Winterkorn, und des früheren Vorstandschefs der Tochtergesellschaft Audi, Rupert Stadler, sowie das Konsortium ihrer Berufshaftpflichtversicherer (D&O) seien zu billig davon gekommen. Für möglich halten die Bundesrichter und -richterinnen das aber. Daher muss die Vorinstanz – das OLG Celle – den Fall neu aufrollen.
Damit war nicht unbedingt zu rechnen. Schließlich hatte die Hauptversammlung – also die Eigentümer des Wolfsburger Fahrzeugherstellers – den Kompromiss zwischen dem Unternehmen und den Hauptverantwortlichen für den Betrug an Kunden, Behörden und der Umwelt gebilligt. Und dies sogar mit 99,91% bzw. 99,98% der abgegebenen Stimmen. Die beiden Anlegerschutzvereinigungen, die dies von der Justiz für nichtig, zumindest aber für anfechtbar erklären lassen wollten, schienen da nicht die besten Karten zu haben. Obwohl mit der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) sogar eine der zwei größten Aktionärsvereinigungen dabei war.
Und tatsächlich hat der fürs Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat zwei ihrer Hauptargumente vom Tisch gewischt: Weder sah er einen Verstoß gegen die Sperrfrist von drei Jahren für den Verzicht auf Ansprüche gegen Top-Manager (§ 93 Abs. 4 AktG). Noch gegen § 57 Abs. 1 AktG, der die Rückzahlung ihrer Einlagen an Aktionäre verbietet, um das Kapital der Gesellschaft aufrechtzuerhalten – obwohl manche der zahlreichen von dem vermeintlichen Schlussstrich Begünstigten selbst Anteile an ihr gehalten haben dürften.
Das Haar in der Suppe: Die Tagesordnung
Aber Karlsruhe ist gelegentlich gut darin, ein fettiges Haar in einer vermeintlich schmackhaften Suppe zu finden. So war es etwa, als die obersten Rechtsprecher im Zivilrecht den Prospekt zum zweiten Börsengang der Deutschen Telekom für fehlerhaft erklärten: Dort war die Übertragung der Anteile an der amerikanischen Tochtergesellschaft Sprint ("Umhängung") als Verkauf bezeichnet worden. Auf die Idee, dass dies einen wesentlichen Unterschied machen könnte, waren selbst die Vertreter des sogenannten Musterklägers nicht gekommen, sondern erst nach mehrjähriger Prozessdauer ein einziger der zahlreichen anderen beteiligten Anwälte.
Ähnlich hier: Die Tagesordnung ließ aus Karlsruher Sicht nicht erkennen, in welchem Umfang und auf welcher Tatsachengrundlage die Investoren auf Ansprüche verzichten sollten. Zudem stand die Zusammenkunft der Miteigentümer im Jahr 2021 im Zeichen der Corona-Welle. Das "Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie" (COVMG) erlaubte rein virtuelle Versammlungen. Vor allem: Ein Vorstand durfte nach seinem Ermessen entscheiden, dass Fragen an ihn vorab eingereicht werden mussten und wie er sie beantwortet. Das tat die VW-Spitze damals nur in zusammengefasster Form.
Gegen die D&O-Versicherung holte der BGH daher den ganz großen Hammer hervor und erklärte den Vergleich ganz und gar für nichtig. Was Winterkorn, Stadler & Co. angeht, müssen die niedersächsischen Vorderrichter nun klären, ob die Auskünfte an die Fragesteller ausreichten oder angefochten werden können (was eine gewisse Abwägung erlaubt). So habe sich aus der bloßen Mitteilung der laufenden Einkommen nicht schließen lassen, wieviel Vermögen die unehrenhaft aus dem Amt geschiedenen Organmitglieder besaßen.
Müssen Winterkorn und Stadler jetzt mehr zahlen?
Gut so: Mit 11,2 bzw. 4,1 Millionen Euro sind die sicherlich bestens betuchten Hauptverantwortlichen verdammt billig davongekommen – gemessen an den weltweiten Schadensersatz- und Strafzahlungen der VW-Gruppe von allermindestens 32 Milliarden Euro. Wenngleich die Mega-Verdiener Winterkorn und Stadler auch in den Strafprozessen gegen sie selbst Manches zu blechen haben.
Gut so, dass damit noch nicht das letzte Wort über die Verantwortlichen für einen der größten Wirtschaftskrimis der deutschen Nachkriegsgeschichte gesprochen ist. Immerhin ist dessen Dimension allenfalls mit den Fällen Wirecard und Cum-Ex (sowie Cum-Cum) vergleichbar. Gerade erst hat der EuGH entschieden, dass sich der Konzern nicht auf einen Verbotsirrtum rausreden könne, weil das deutsche Kraftfahrtbundesamt die sogenannten Thermofenster gebilligt hatte. Da sollten deutsche Gerichte ebenfalls nicht zu milde sein.


