74 Jahre EMRK: Kein Schönwetter-Vertrag?
© picture-alliance / dpa | Göttert: Beratende Versammlung des Europarats in Straßburg eröffnet - 1950

Einen Tag vor einer Wahl, die für die westliche Welt historisch sein kann, feiert die EMRK Geburtstag. Seit 1950 hat sie sich von einem eher unbedeutenden Instrument zu einem wichtigen Garanten individueller Grundrechte gemausert. Doch die EU ist bis heute kein Mitglied und die EMRK steht vor neuen Herausforderungen.

Am 4. November 1950 hat Deutschland gemeinsam mit 12 weiteren Staaten die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet. Die ersten Unterzeichner waren die damaligen Mitglieder des Europarats, der sich im Mai 1949 gegründet hatte – darunter Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg und das Vereinigte Königreich.

Unter dem Eindruck des erst kurz zurückliegenden zweiten Weltkriegs und angesichts globaler Bestrebungen, eine einheitliche Grundlage für den Schutz elementarer Rechte zu finden, war die EMRK zu ihrer Zeit der ehrgeizigste völkerrechtliche Vertrag mit dieser Zielrichtung. Heute gilt sie für mehr als 600 Millionen Menschen in 46 Staaten.

Ein Bollwerk gegen die Diktatur

Ein friedliches Europa schaffen – das war schon der Wunsch beim Europa-Kongress in Den Haag 1948, bei dem auf die Einladung von Winston Churchill  700 Politikerinnen und Politiker fast aller europäischen Länder zusammenkamen. Ein neuer Krieg auf europäischem Boden sollte verhindert, ein Bollwerk gegen Diktatur und Willkür geschaffen werden – eine gemeinsame europäische Organisation musste her. Das Abschlussmanifest des Kongresses gilt als Anstoß zur Gründung des Europarats, der sich von Beginn an als Hüter der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie verstand. Als dann im selben Jahr noch die UN die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ beschloss – von der man sich abheben wollte -, war der Grundstein gelegt für eine eigene, eine europäische Menschenrechtserklärung.

Und tatsächlich übertrifft die EMRK, wie sie schließlich vom Ministerkomitee des neugegründeten Europarats angenommen wurde, die UN-Menschenrechtserklärung in vielerlei Hinsicht. Die in der EMRK verbrieften Rechte - wie das Verbot von Folter und von Sklaverei, das Recht auf Freiheit, auf Privat- und Familienleben, auf ein faires Gerichtsverfahren und die Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit – waren nicht nur umfassender definiert als in der UN-Erklärung. Sie sollten auch von einem eigens dafür eingerichteten Gericht überprüft werden, dessen Urteilen sich jeder zeichnende Staat unterwerfen sollte: dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

Schwerer Start für den jungen EGMR

Heute ist der Beitritt zur EMRK faktisch eine Voraussetzung für den Eintritt in den Europarat. 46 Staaten haben sie ratifiziert – Deutschland im Jahr 1952 – und sich somit verpflichtet, die Entscheidungen des EGMR zu achten und umzusetzen. Den Gerichtshof kann anrufen, wer sich durch seinen Heimatstaat in seinen durch die EMRK verbrieften Rechten verletzt fühlt und den Rechtsweg im eigenen Land erschöpft hat. Seit seiner ersten Sitzung am 20. April 1959 hat das Gericht laut seiner Website über eine Million Beschwerden behandelt und 26.000 Urteile gefällt.  

Und das, obwohl sein Einfluss zuerst sehr gering war. Denn bis ins Jahr 1998 hinein konnten Betroffene Beschwerde nur bei der dafür zuständigen Europäischen Kommission für Menschenrechte einlegen – und auch das nur in Ausnahmefällen, denn grundsätzlich gab es ein Beschwerderecht nur für Staaten. Das änderte sich erst mit dem 16. Zusatzprotokoll der EMRK, einer grundlegenden Reform, die aus dem zahnlosen Tiger EGMR einen effektiven Wächter über die Einhaltung der EMRK machte und so den individuellen Rechten aus der Konvention ihre ursprünglich versprochene Geltung verlieh.

Klimaseniorinnen und Ruanda-Modell: Der EGMR mischt sich ein

Seither hat der Gerichtshof stark an Bedeutung gewonnen und einige wegweisende Entscheidungen getroffen, in jüngerer Vergangenheit sogar mit einigen spektakulären Urteilen für Aufmerksamkeit gesorgt. So hielt er etwa die Ermittlungen Russlands zum Anschlag auf den Kreml-Kritiker Alex Nawalny für nicht ausreichend. Nawalny sei dadurch in seinem Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK verletzt (Urt. v. 06.06.2023, Besch.-Nr. 36418/20).

Außerdem stoppte der EGMR 2022 per einstweiliger Maßnahme einen britischen Flieger, der Geflüchtete auf der Grundlage eines sogenannten Drittstaatendeals nach Ruanda abschieben sollte (Einstweilige Maßnahme, 14.06.2022 - 28774/22). Vorläufige Eilentscheidungen sind zwar nicht bindend. Wären die Betroffenen jedoch ausgeflogen worden und das Gericht in Straßburg hätte die Ausweisung im Nachgang grundsätzlich für rechtswidrig befunden, hätte die britische Regierung die Menschen wieder zurückholen müssen.

Schließlich hat der EGMR 2024 die Rechte der sogenannten Klimaseniorinnen auf Privat- und Familienleben gem. Art. 8 EMRK verletzt gesehen, weil die Schweizer Regierung es versäumt habe, ausreichende Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen (EGMR, Urteil vom 09.04.2024 - 53600/20).

Starker EGMR – starker Widerstand?

Dabei fügen sich manche Vertragspartner den EGMR-Urteilen zähneknirschender als andere. Und die EMRK hat dasselbe Problem wie jedes völkerrechtliche Abkommen: Je stärker der EGMR auf die Einhaltung der Konvention pocht – und dabei mitunter große Umwälzungen in den Vertragsstaaten anstößt –, desto kritischer fällt das politische Echo aus. Nachdem die Klimaseniorinnen vor dem EGMR erfolgreich gewesen waren, hat die konservative Schweizerische Volkspartei das Urteil eine „dreiste Einmischung“ genannt und den Austritt aus der EMRK gefordert. Obwohl der Bundesrat einen Austritt ablehnte, blieb das Klima-Urteil des EGMR ohne Auswirkungen in der Schweiz.

Ähnlich in Russland: Zwar ist das Land schon seit 2022 kein Mitglied des Europarats mehr. Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine war Russland vom Europarat – und damit formell auch vom Wirkungskreis der EMRK – ausgeschlossen worden. Schon 2015 hatte das russische Verfassungsgericht aber entschieden, dass Urteile des EGMR nur noch umgesetzt werden müssen, wenn das Verfassungsgericht geklärt hat, dass diese Urteile nicht gegen die russische Verfassung verstoßen. Danach blieben mehr als 217 Urteile gegen das Land ohne Wirkung.

Und auch Großbritannien hat es nicht gut aufgefasst, dass der EGMR sein Ruanda-Modell verurteilt hat. Zwar hat man sich auch hier nach heftigen Diskussionen gegen den Austritt aus der EMRK entschieden, doch die damalige Regierung um Premierminister Rishi Sunak kündigte an, sich künftig über Entscheidungen des EGMR hinwegzusetzen, um sein Ruanda-Modell zu retten.

EU bis heute nicht beigetreten

Die EMRK sieht sich heute neuen Herausforderungen gegenüber. Erschaffen unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs als Bollwerk gegen die Rechtelosigkeit, haben sich die EMRK und ihr Wächter, der EGMR, zusehends Wirkmacht in den Vertragsstaaten verschafft. Doch auch der politische Widerstand wächst, insbesondere von rechts.

Wie wäre es also, wenn eine große rechtliche, wirtschaftliche und Wertegemeinschaft sich zur EMRK und den darin verbrieften Rechten bekennen würde? Sich der Kontrolle des EGMR zum Schutz der Grundrechte unterwerfen würde? Ein Zeichen des Vertrauens und der Anerkenntnis – das bisher nicht erfolgt ist.

Denn entgegen der naheliegenden Vermutung und trotz der ausdrücklichen Verpflichtung im Vertrag von Lissabon ist die Europäische Union der EMRK noch nicht beigetreten. Zwar gab es in der Vergangenheit bereits zwei Anläufe, doch beide Male stoppte der EuGH die ausgehandelten Beitrittserklärungen. Beim ersten Mal 1996 fehlte es an einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage in den Verträgen. Diese wurde mit dem Vertrag von Lissabon nachgeholt. Beim zweiten Versuch 2014 hielt der EuGH aber in einem Gutachten den Beitritt zur EMRK für mit dem Unionsrecht unvereinbar.

An dem rechtlich äußerst komplexen und kleinteiligen Gutachten gab es in der Vergangenheit viel Kritik. Böse Zungen behaupteten, der EuGH habe sich dem EGMR nicht unterordnen wollen. Etwas gnädiger: Er habe die Autonomie des Unionsrechts bewahren wollen.

Nun gibt es einen neuen Anlauf: Die Verhandlungen zwischen EU und Europarat sind im Jahr 2019 wieder angelaufen, am 20. März 2023 ist eine Neuauflage eines Beitrittsabkommens erzielt worden. Ob sie beim EuGH eine bessere Chance hat, ist allerdings noch unklar.  Der Ausschluss Russlands aus dem Europarat öffnet jedenfalls wieder Optionen – und ein Beitritt könnte Inkohärenzen aus der Rechtsprechung von EuGH und EGMR ausräumen. Schließlich könnte er – gerade in Zeiten des Aufstiegs antidemokratischer Kräfte in Europa und auf der ganzen Welt – unterstreichen, dass die EMRK kein Schönwetter-Vertrag ist, der es erlaubt, Menschenrechte zu achten, wenn es politisch genehm ist, aber mit Austritt zu drohen, wenn nicht.

Redaktion beck-aktuell, Denise Dahmen, 4. November 2024.