Prozesse auf Papier: Die Kunst des Gerichtszeichnens
© Marco Tancredi | Rupperswil-Prozess

Gerichtszeichner werden immer noch gerne angefragt, wenn ein Prozess öffentliches Interesse erregt. Durch ihre Sonderrolle erhalten sie einen speziellen Einblick in die Verhandlung – und sehen vieles, was Juristen so vertraut ist, mit anderen Augen.

Erst als die schwere Holztür hinter dem letzten Kamerateam ins Schloss fällt, kehrt im Gerichtssaal Ruhe ein. Kein Kratzen der Tonangel mehr über den altehrwürdigen Fußboden, kein klackender Spiegelreflex, der im Sekundentakt auslöst. Der Angeklagte lässt langsam den roten Aktendeckel sinken, den er vors Gesicht gehalten hat, um den gierigen Kameralinsen zu entgehen. Während der Prozess beginnt, mischt sich ein neues Geräusch unter die Altbekannten: das leise Klirren eines Wasserglases, an dessen Rand ein Pinsel abgestrichen wird.

"Im Gegensatz zu all dem Material, das Journalisten rund um den eigentlichen Prozess herum sammeln, steht ein analoges Bild immer noch dafür, dass man tatsächlich dabei war." Cony Theis ist Künstlerin, sie lehrt Bildende Kunst an der Europäischen Kunstakademie in Trier. Seit über zwanzig Jahren arbeitet sie zudem als Gerichtszeichnerin. "Mit den Gerichtszeichnungen habe ich noch zu Studienzeiten angefangen", erzählt sie. "Ich hatte mich auf Porträt und gegenständliche Kunst spezialisiert. Das hat zu der Zeit niemand gemacht - das war in den 80ern völlig out. Als dann eine Anfrage von RTL kam, landete das bei mir, weil ich eine der wenigen war, die überhaupt so arbeiteten."

Gerichtszeichnerinnen und -zeichner malen für Rundfunkanstalten und private Medienhäuser. Sie werden angefragt, wenn Prominente auf der Anklagebank sitzen, bei Mordserien, oder wenn sich aus einem anderen Grund die Öffentlichkeit für den Prozess interessiert. Denn obwohl bei allen großen Verfahren Journalistinnen und Journalisten im Publikum sitzen, sind die Regularien für Bild- und Tonaufnahmen sehr streng, um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu schützen. So verbietet etwa § 169 Abs. 1 GVG Ton- und Videoaufzeichnungen während der Verhandlung. Ob Medienvertreter abgesehen davon Fotos machen dürfen, entscheidet gemäß § 176 GVG der oder die Vorsitzende. Die Regel ist: Eine ausgewählte Gruppe darf vor Prozessbeginn Material sammeln, das sie dann allen kostenlos zur Verfügung stellen muss, die vor der Tür geblieben sind (sogenannte Pool-Lösung). Während der eigentlichen Verhandlung aber dürfen sie nicht anwesend sein.

"Die Hände sagen am meisten aus"

Die Gerichtszeichnerinnen und -zeichner dagegen dürfen bleiben. Ihre Werke gleichen weniger einem Foto – also einer objektiven Darstellung der Anwesenden – sie sind vielmehr eine subjektive Interpretation des Geschehens. So erhalten sie einen seltenen Einblick in die Verhandlung, wie er sonst oft nur den Prozessbeteiligten vorbehalten ist. Doch im Gegensatz zur Richterin, für die der Gerichtssaal und seine Rituale Alltag sind, und im Unterschied zum Anwalt, der sich allzu routiniert durch den Prozessstoff bewegt, ist der Blick der Gerichtszeichnerin ein gänzlich anderer. Sie sieht, was oft sogar dem Staatsanwalt hinter seinen Bücherstapeln entgeht. Ein leichtes Zucken der Mundwinkel, eine kleine Haltungsänderung oder das kurze Aufwallen einer Emotion.

"Ich konzentriere mich zum Beispiel sehr gerne auf die Hände", sagt Marco Tancredi. "Es gibt ganz viele Posen, die wir unbewusst einnehmen, die aber sehr aussagekräftig sind. Ob jemand nervös an den Daumen zieht oder mit den Fingern am Kinn nachdenkt – die Hände sagen am meisten aus." Zum Gerichtszeichnen ist der Infografiker eher zufällig gekommen. Die Zeitung, bei der er angestellt war, suchte jemanden, der flink zeichnen konnte – und wurde im eigenen Haus fündig. "Bei meinem allerersten Mal vor Gericht kam mir alles sehr formell vor – fast schon theatralisch", erinnert sich Tancredi. "Als würde ich in eine fremde Welt hineinschauen, die ich noch nie gesehen hatte und nicht verstand."

Dieser erste Prozess, zu dem Tancredi geschickt wurde, war der Vierfachmord von Rupperswil: 2015 hatte ein damals 33-jähriger Mann eine vierköpfige Familie in ihrem Haus in der Schweizer Kleinstadt getötet. Tancredis Auftrag war einfach: Zeig uns den Täter bei der Urteilsverkündung. "Natürlich versuche ich, die Person authentisch zu zeichnen, so wie sie wirklich ausgesehen hat. Ich möchte aber vor allem die Emotionen zeigen. Meist sieht man bei den Tätern Scham – und bei der Urteilsverkündung auch Angst", sagt Tancredi. Im Rupperswil-Prozess habe der Täter nach außen aber sehr emotionslos gewirkt. Gerade deshalb komme es darauf an, den richtigen Moment abzupassen. "Da ist Schnelligkeit gefragt. In dem Moment, wenn das Urteil verkündet wird, muss man irgendwie die Reaktionen und die Emotionen aller Beteiligten einfangen."

Dabei konzentriert Tancredi sich nicht nur auf die angeklagte Person. Im Laufe der Verhandlung hält er oft auch die Richterbank oder die Verteidiger auf Papier fest, auch wenn die Zeitungen ihm diese Bilder nicht immer abnehmen. Das hat einen Grund: Gerade die Anwälte wollten oft gezeichnet werden, verrät er. Sie kaufen die Bilder selbst, um sie für ihre Website zu verwenden oder schlicht über dem Schreibtisch aufzuhängen.

"Das Malen wirkt wie ein Filter"

An seine erste Urteilsverkündung erinnert sich auch Stefan Bachmann. Der freiberufliche Illustrator saß damals für den SWR in einem Mordprozess gegen einen jungen Mann, der ein Mädchen aus niedrigen Beweggründen getötet hatte. "Während der Urteilsverkündung ist er immer weiter in sich zusammengefallen, wie ein Soufflé", erinnert sich Bachmann. "Zuerst fiel mir das gar nicht so auf, aber dann habe ich gemerkt, dass meine Zeichnung nicht mehr stimmte. Ich musste immer wieder korrigieren."

Eine der größten Herausforderungen beim Gerichtszeichnen ist für ihn das richtige Timing. "In der oft recht kurzen Zeit, in der ich die Möglichkeit habe, zu zeichnen, bin ich dann angespannt und hochkonzentriert. Natürlich bekomme ich mit, was im Gerichtssaal gesagt wird, aber in der Situation konzentriere ich mich sehr aufs Zeichnen." Erst später, auf dem Nachhauseweg, lässt sich Bachmann die Verhandlung noch einmal durch den Kopf gehen. Und oft hängt ihm das Gehörte noch nach. "Natürlich bekommt man als Gerichtszeichner nie den ganzen Prozess mit, aber das, was ich höre, macht mich schon betroffen. Der sah so unscheinbar aus", sagt er über den jungen Angeklagten in seinem ersten Prozess, "das hätte auch mein Nachbar sein können." Bachmann, der auch den Vergewaltigungsprozess gegen Jörg Kachelmann und die Verurteilung der RAF-Terroristin Verena Becker wegen Beihilfe zum Mord miterlebt hat, muss sich aktiv distanzieren: "Was im Prozess gesagt wird, soll keinen Einfluss auf meine Arbeit haben."

"Eine gewisse Distanz ist absolut notwendig", findet auch Theis. "Ich möchte keine Form von Karikatur machen, sondern wie ein Aufnahmegerät funktionieren und wiedergeben, was ich beobachte." Der Schaffensprozess selbst hilft ihr dabei, das Gehörte zu verarbeiten, sagt sie: "Das Malen wirkt da für mich wie ein Filter".

Leben konnte Theis von dieser Arbeit noch nie – das kann wohl kein Gerichtszeichner außerhalb der USA, wo Gerichtszeichnungen noch gefragter sind als hier. Doch in den vergangenen Jahren hat sich die schlechte Auftragslage weiter zugespitzt. Tancredi berichtet: "Ich habe leider am eigenen Leib erfahren, wie es ist: Seit Corona bleiben die Aufträge aus." Anfahrt, manchmal Übernachtung, und dann ist da noch die Zeichnung selbst. Eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung, die zunehmend zu Ungunsten der Zeichnerinnen und Zeichner ausfällt. Inflation und die jahrelange finanzielle Bedrängnis der Verlagsbranche tun ihr Übriges. Bald, so fürchten alle drei, könnte dieser Teil ihrer Arbeit komplett verschwunden sein.

"Gerichtsprozesse sind Verhandlungen des Abstrakten"

Theis bedauert diese Entwicklung. Für sie ist das Gerichtszeichnen weit mehr als eine Reihe simpler Aufträge: Im Laufe der Jahre hat sie bereits den Todesengel von Wuppertal auf Papier gebannt, der Attentäterin Oskar Lafontaines ins Gesicht geblickt, dem Mannesmann-Prozess beigewohnt und die Geiselnehmer von Gladbeck gezeichnet. "Es hatte großen Einfluss auf meine künstlerische Arbeit. Als Künstlerin interessiere ich mich sowieso nicht nur für die schönen Seiten des Lebens. Die menschlichen Abgründe faszinieren mich auch. In Gerichtssälen habe ich viel über gesellschaftliche Zustände gelernt."

Über die Jahre hat sich Theis‘ Blick auf die Verhandlungen gewandelt. "Zu Anfang war ich eher neugierig und hatte auch viele Vorurteile. Erst später ist mir klargeworden, wie großartig es eigentlich ist, dass wir diese Prozesse haben." Sie weiß zu schätzen, wie ruhig und geordnet die Verhandlungen ablaufen. Die Gründlichkeit der Richterinnen und Richter und der Einsatz der Verteidigung beeindrucken sie. "Dass jeder vor Gericht gehört wird, halte ich für eine sehr demokratische Angelegenheit."

So sollen auch ihre Zeichnungen dazu beitragen, für die Bürgerinnen und Bürger ein möglichst realistisches Bild davon zu erschaffen, wie ein Prozess tatsächlich abläuft. Das, so hofft Theis, stärke auch das Vertrauen in den Rechtsstaat. Denn: "Gerichtsprozesse sind zugleich auch Verhandlungen des Abstrakten. Sie spiegeln gesellschaftliche Prozesse - mit ihrer jeweils veränderten Sicht auf das, was gerecht erscheint."

Redaktion beck-aktuell, Denise Dahmen, 19. August 2024.