OLG Hamm: Anspruch auf Übernahme von Kosten für künstliche Befruchtung unabhängig vom Familienstand

VVG §§ 1 Satz 1, 192; MB/KK 1994 § 1 I, II 1; SGB V § 27a I Nr. 3

Ein Anspruch gegen den Krankheitskostenversicherer wegen künstlicher Befruchtung scheitert laut Oberlandesgericht Hamm nach den üblichen Versicherungsbedingungen nicht daran, dass der Versicherte nicht verheiratet ist, sondern eine nichteheliche Lebensgemeinschaft führt. Die medizinische Notwendigkeit sei in der Krankheitskostenversicherung objektiv und ex ante zu beurteilen. Daher seien aber auch seinerzeit gegebene Umstände zugunsten des Versicherungsnehmers zu berücksichtigen, auch wenn sie etwa von dem behandelnden Arzt übersehen wurden.

OLG Hamm, Urteil vom 11.11.2016 - 20 U 119/16 (LG Bochum), BeckRS 2016, 20525

Anmerkung von
Rechtsanwalt Holger Grams, Fachanwalt für Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 25/2016 vom 15.12.2016

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Sachverhalt

Die Klägerin macht aus einer privaten Krankenkostenvollversicherung Ansprüche auf Erstattung von Kosten für neun fehlgeschlagene In-Vitro-Fertilisationen (IVF) kombiniert mit intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) geltend. Die 1976 geborene Klägerin lebte seit dem Jahr 2000 zunächst unverheiratet in einer Partnerschaft mit einem Mann, der eine andrologische Fertilitätsstörung aufweist. Der Kinderwunsch der beiden erfüllte sich nicht.

Die Klägerin stellte einen Kostenübernahmeantrag bezüglich künstlicher Befruchtungen bei der Beklagten. Diese lehnte ab, da die Klägerin nicht mit ihrem Partner verheiratet war. Die Klägerin unterzog sich dennoch mehreren Behandlungszyklen einer kombinierten IVF/ICSI-Behandlung. Dabei stellten die Ärzte eine stark reduzierte ovarielle Reserve sowie eine fehlende bzw. stark eingeschränkte Durchgängigkeit ihrer Eileiter fest.

Das Landgericht gab der Klage teilweise statt. Bezüglich einiger Behandlungszyklen verneinte es aber die medizinische Notwendigkeit. Beim ersten Behandlungszyklus habe noch gar keine Kenntnis von einer weiblichen Indikationslage bestanden. Die Berufung der Klägerin war teilweise erfolgreich; die Anschlussberufung der Beklagten wurde zurückgewiesen.

Rechtliche Wertung

Soweit das OLG die Behandlungen als medizinisch notwendig ansah, gab es den Ansprüchen der Klägerin auf Kostenübernahme statt. Sowohl die IVF-Behandlung als auch die ICSI-Behandlung hätten der Behandlung der Klägerin gedient. Dass die Klägerin und ihr Partner nicht verheiratet waren, sei nicht entscheidungserheblich.

Bereits zum Zeitpunkt des ersten Behandlungszyklus habe eine eingeschränkte ovarielle Reserve und ein vollständiger bzw. teilweiser Tubenverschluss vorgelegen. Die IVF/ICSI-Behandlung sei in diesem Fall eine medizinisch anerkannte Methode zur Überwindung der Sterilität der Klägerin. Hierauf sei auch abzustellen, obwohl hierüber zu Beginn des ersten Behandlungszyklus noch keine Erkenntnisse bei den behandelnden Ärzten vorgelegen hätten. Aus Sicht der versicherten Person müsse es darauf ankommen, ob eine medizinische Notwendigkeit nach den objektiv möglichen - gegebenenfalls tatsächlich nicht erhobenen - Befunden und Erkenntnissen zum Zeitpunkt der Maßnahme tatsächlich gegeben war (vgl. Kalis in: Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 5. Aufl., § 1 MB/KK Rn. 92).

Andernfalls gehe eine fehlerhafte und/oder unvollständige Befunderhebung des Arztes zulasten des versicherten Patienten, obgleich tatsächlich eine medizinische Notwendigkeit vorlag und bei ordnungsgemäßer und/oder vollständiger Befunderhebung eine Eintrittspflicht gegeben wäre. Soweit im Einzelfall eine reine ex-ante-Betrachtung vorgenommen werde, diene dies dazu, dass vertretbare Fehleinschätzungen des behandelnden Arztes im Hinblick auf die medizinische Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten sich nicht zulasten des Patienten/Versicherten auswirken dürften (vgl. BGH, Urteil vom 29.11.1978 - IV ZR 175/77, BeckRS 2008, 19314). Das bedeute aber nicht, dass stets eine Ex-ante-Betrachtung vorzunehmen sei.

Auf das Vorliegen einer Ehe zwischen der Klägerin und ihrem Partner komme es nicht an. Es fehle an einem entsprechenden Ausschlusstatbestand in den AVB der Beklagten. Entscheidend sei deshalb allein die medizinische Notwendigkeit, die aber eben gerade nicht davon abhänge, dass die versicherte Person verheiratet ist.

Praxishinweis

In der gesetzlichen Krankenversicherung besteht ein Anspruch auf Kostenerstattung für künstliche Befruchtung nach § 27a Abs. 1 Nr. 3 SGB V. Unter bestimmten Voraussetzungen entfällt dort die Leistungspflicht bei nicht verheirateten Paaren. Diese Differenzierung hat das Bundesverfassungsgericht für zulässig erklärt (Urteil vom 28.02.2007 - 1 BvL 5/03, NJW 2007, 1343).

Wie hier auch: LG Dortmund, Urteil vom 10.04.2008 - 2 O 11/07, BeckRS 2008, 08547, FD-VersR 2008, 260779.

Redaktion beck-aktuell, 23. Dezember 2016.