"Das Staats­ex­amen un­ter­drückt alle krea­ti­ven Im­pul­se"
© Peter Junkermann, Universität Halle

Recht und Li­te­ra­tur ist in Deutsch­land ein Or­chi­de­en­fach, auch wegen un­se­rer Ju­ris­ten­aus­bil­dung, meint Straf­recht­le­rin Daria Bayer. Im In­ter­view spricht sie dar­über, warum Cum-Ex der per­fek­te Thea­ter-Stoff ist, und was sie von den Stü­cken Fer­di­nand von Schirachs hält.

beck-ak­tu­ell: Frau Dr. Bayer, Sie sind Mit­ar­bei­te­rin an einem straf­recht­li­chen Lehr­stuhl, haben aber ein sehr spe­zi­el­les In­ter­es­sen­ge­biet, das man dort nicht un­be­dingt ver­mu­ten würde: Recht und Li­te­ra­tur. Ihre Dis­ser­ta­ti­on trägt den Titel "Tra­gö­die des Rechts", laut Be­schrei­bung auf der Ver­lags­sei­te ist "Ziel des Bu­ches (…), die Gren­zen zwi­schen Kunst und Wis­sen­schaft zu durch­bre­chen". Was fas­zi­niert Sie an der Über­schnei­dung von Kunst und Recht?

Bayer: Die strik­te Tren­nung von Recht und Li­te­ra­tur ist etwas Mo­der­nes. In den Ur­sprün­gen der grie­chi­schen Tra­gö­die sind beide Fel­der eng ver­bun­den. Sie wur­den nur durch die Spe­zia­li­sie­rung der Dis­zi­pli­nen immer wei­ter ge­trennt. Mich in­ter­es­sie­ren aus rechts­phi­lo­so­phi­scher und straf­rechts­theo­re­ti­scher Per­spek­ti­ve die Grund­fra­gen des ge­sell­schaft­li­chen Zu­sam­men­le­bens und des Stra­fens und diese fin­den sich schon in den an­ti­ken Tra­gö­di­en wie­der. Gleich­zei­tig geht es mir darum, zu­kunfts­ge­wandt neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men für die ge­gen­wär­ti­ge Rechts­kri­tik zu fin­den. Ein Thea­ter­stück er­laubt es, Am­bi­va­len­zen zu zei­gen und immer eine zwei­te Ebene mit­zu­den­ken: dass das, was ge­zeigt wird, nur eine Mög­lich­keit ist und nicht die ein­zi­ge Rea­li­tät.

beck-ak­tu­ell: Hin­ter dem Be­griff Recht und Li­te­ra­tur steht eine For­schungs­rich­tung, die in­ter­dis­zi­pli­när zwi­schen Rechts­wis­sen­schaft und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft an­ge­sie­delt ist. Womit be­fasst man sich da kon­kret?

Bayer: Tra­di­tio­nell wird un­ter­schie­den zwi­schen Recht in der Li­te­ra­tur und Recht als Li­te­ra­tur. Recht in der Li­te­ra­tur be­trach­tet Werke, die sich mit dem Recht aus­ein­an­der­set­zen, und schaut, wie es darin ver­ar­bei­tet wird. Recht als Li­te­ra­tur ver­steht viel­mehr auch den Rechts­text als einen li­te­ra­ri­schen Text. Un­se­re ju­ris­ti­schen Aus­le­gungs­ka­nons sind aus dem Ver­such ent­stan­den, Texte zu in­ter­pre­tie­ren, und ori­en­tie­ren sich an li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Me­tho­den. Schlie­ß­lich gibt es noch eine drit­te, neue­re Ka­te­go­rie, die man "Recht als Kul­tur" nen­nen könn­te. Diese geht wei­ter und ver­sucht, neue For­men zu fin­den, Recht und Li­te­ra­tur zu ver­bin­den. In diese letz­te Ka­te­go­rie würde ich auch meine Dis­ser­ta­ti­on ein­ord­nen.

"Cum-Ex bie­tet gro­ßes Po­ten­ti­al fürs Thea­ter"

beck-ak­tu­ell: In Ihrer Dis­ser­ta­ti­on haben Sie eine Ana­ly­se der mar­xis­ti­schen Rechts­kri­tik in die Form einer mo­der­nen Tra­gö­die über­tra­gen. Das heißt, Sie haben Ihre Dis­ser­ta­ti­on wirk­lich als Thea­ter­stück ver­fasst?

Bayer: Ein Teil der Dis­ser­ta­ti­on ist als Thea­ter­stück ver­fasst. Im An­schluss an das Stück folgt dann eine eher klas­si­sche wis­sen­schaft­li­che Ab­hand­lung. Ich habe ver­sucht, das Haupt­werk von Pa­schu­ka­nis, die "All­ge­mein Rechts­leh­re des Mar­xis­mus", die bis heute ei­gent­lich den Grund­bau­stein einer ma­te­ria­lis­ti­schen Kri­tik des Rechts dar­stellt, auf ihre Ak­tua­li­tät hin zu be­leuch­ten. Und den Kern die­ser Un­ter­su­chung bil­det das Stück, das ich auch mit mei­nem Thea­ter­kol­lek­tiv in­sze­niert habe.

beck-ak­tu­ell: Da Sie es an­spre­chen: Sie haben nicht nur Ihre Dis­ser­ta­ti­on in­sze­niert, son­dern jüngst auch den Cum-Ex-Skan­dal als Thea­ter­stück unter dem Titel "Pu­bli­Cum Ex" auf­ge­führt. Was hat sie dazu be­wo­gen, sich aus­ge­rech­net die­ses über­aus kom­pli­zier­te Thema her­aus­zu­grei­fen und es als Thea­ter­stück zu in­sze­nie­ren?

Bayer: Ein Stück zu Cum-Ex zu ma­chen war nicht meine Idee, son­dern die einer Vor­stands­kol­le­gin aus mei­nem Thea­ter­kol­lek­tiv, Leo­ka­dia Mel­chi­or. Ich war aber so­fort be­geis­tert. Der Stoff bie­tet gro­ßes Po­ten­zi­al für eine thea­tra­le Ver­ar­bei­tung. Oft wird Recht und Li­te­ra­tur so ver­stan­den, dass man sich ein­fach ein Buch nimmt, das sich ir­gend­wie mit dem Recht aus­ein­an­der­setzt, und die­ses dann un­ter­sucht. Ich finde es span­nen­der, in Be­rei­che zu gehen, wo das Recht sprach­los ist und das Thea­ter eine Lücke fül­len kann. In die­ser Hin­sicht hat der Cum-Ex-Stoff viel ge­bo­ten, weil trotz der par­la­men­ta­ri­schen Un­ter­su­chungs­aus­schüs­se und Straf­pro­zes­se viele Fra­gen un­ge­klärt ge­blie­ben sind. Ins­be­son­de­re sind die Struk­tu­ren hin­ter Cum-Ex vie­len Bür­ge­rin­nen und Bür­gern bis heute un­klar. Die Ver­ar­bei­tung als Thea­ter­stück er­mög­licht es, diese Struk­tu­ren für ein grö­ße­res Pu­bli­kum plas­tisch zu ma­chen.

beck-ak­tu­ell: In­wie­fern hilft Kunst ge­ne­rell dabei, kom­ple­xe The­men ver­ständ­lich zu ma­chen?

Bayer: Spe­zi­fisch im Thea­ter kann man durch die Dar­stel­lung auf der Bühne Dinge ver­ein­fa­chen und trotz­dem in ihrer vol­len Kom­ple­xi­tät dar­stel­len. Das geht zum Bei­spiel, indem ich einen Dia­log zwi­schen zwei Per­so­nen in­sze­nie­re und gleich­zei­tig ein Video mit ge­gen­läu­fi­gem In­halt pro­ji­zie­re. Oder indem ich Kör­per und Stim­me tren­ne: Eine Per­son spricht einen Text, eine an­de­re re­agiert mit dem Kör­per und formt eine Sta­tue. Da­durch kann man zei­gen, dass das, was ge­ra­de auf der Bühne pas­siert, immer nur ein Teil der Wahr­heit ist. So füge ich eine neue Ebene hinzu, die das Ge­schau­spie­ler­te kri­tisch hin­ter­fragt. Und man ist na­tür­lich, wenn man ein Thea­ter­stück in­sze­niert, selbst ge­zwun­gen, die Dinge auf das We­sent­li­che her­un­ter­zu­bre­chen. 

"Schi­rach schafft Auf­merk­sam­keit, schöpft die Mit­tel des Thea­ters aber nicht aus"

beck-ak­tu­ell: Ein an­de­rer Ju­rist, der sich die­sem Me­di­um ge­wid­met hat, ist Fer­di­nand von Schi­rach. Er hat den be­rühm­ten Flug­zeug­ab­schuss­fall als Thea­ter­stück ge­schrie­ben, eben­so ein Stück zur Ster­be­hil­fe, beide sind ver­filmt wor­den. Unter Ju­ris­tin­nen und Ju­ris­ten wird sein Werk, das kom­mer­zi­ell sehr er­folg­reich ist, oft sehr kri­tisch ge­se­hen. Wie fin­den Sie sei­nen An­satz, sol­che Rechts­fra­gen auf die Thea­ter­büh­ne zu brin­gen?

Bayer: Bei aller be­rech­tig­ten Kri­tik an Fer­di­nand von Schi­rach finde ich es zu­nächst ein­mal gut, dass er es schafft, ein gro­ßes Pu­bli­kum für die The­men zu be­geis­tern – und sein Er­folg ist ihm un­be­nom­men. Aus mei­ner Sicht schöpft er aber die Mit­tel des Thea­ters, die ich ge­ra­de be­schrie­ben habe, nicht aus: die Ver­frem­dungs­ef­fek­te, das Durch­bre­chen der vier­ten Wand, das Spiel zwi­schen den Schau­spie­len­den. Mit all die­sen Mit­teln, die es er­mög­li­chen, die Dinge in ihrer Kom­ple­xi­tät dar­zu­stel­len und Am­bi­va­len­zen auf­zu­zei­gen, ar­bei­tet Schi­rach nicht. Im Grun­de ist sein Thea­ter ein ju­ris­ti­sches Fach­ge­spräch in Dia­log­form ver­packt. Und ich glau­be, dass daher auch die oft kri­ti­sier­te Un­ter­kom­ple­xi­tät von Schirachs Stü­cken rührt. Denn da­durch, dass er nicht die ganze Band­brei­te des Thea­ters aus­schöpft, ist er na­tür­lich li­mi­tiert darin, was er den Fi­gu­ren in den Mund legen kann, damit das Pu­bli­kum an­dert­halb oder zwei Stun­den bei der Stan­ge bleibt. 

beck-ak­tu­ell: Nun gibt es noch an­de­re Ver­su­che, das Recht durch Li­te­ra­tur zu er­schlie­ßen. Kürz­lich haben wir auf beck-ak­tu­ell ein In­ter­view mit Jan­ni­na Sch­äf­fer ver­öf­fent­licht, die in ihrer Dis­ser­ta­ti­on Be­zü­ge zwi­schen dem deut­schen Recht und dem Rechts­sys­tem in den Harry-Pot­ter-Bü­chern un­ter­sucht. In den so­zia­len Netz­wer­ken waren da­nach ei­ni­ge eher her­ab­las­sen­de Re­ak­tio­nen zu lesen, wor­auf­hin sich eine Dis­kus­si­on über Sinn und wis­sen­schaft­li­chen Ge­halt einer sol­chen Ana­ly­se ent­spon­nen hat. Was glau­ben Sie, woher rüh­ren diese Res­sen­ti­ments?

Bayer: Ich habe diese De­bat­te na­tür­lich mit­be­kom­men, aber die Dis­ser­ta­ti­on selbst nicht ge­le­sen. Daher kann ich zum In­halt nichts sagen. Mir scheint aber, dass sich die öf­fent­li­che Em­pö­rung we­ni­ger gegen die – den meis­ten un­be­kann­te – For­schungs­dis­zi­plin Recht und Li­te­ra­tur ge­rich­tet hat als gegen das Thema Harry Pot­ter. So­weit ich es ver­stan­den habe, zieht die Dis­ser­ta­ti­on einen Ver­gleich zwi­schen dem fik­tio­na­len Rechts­sys­tem der Harry-Pot­ter-Bü­cher und dem rea­len Un­rechts­sys­tem des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Dies wurde als un­pas­send emp­fun­den, da Harry Pot­ter ein für Kin­der ge­schrie­be­nes Buch ist. Die ei­gent­li­che Frage, die mich in­ter­es­sie­ren würde, ist aber, wie die Au­to­rin die Aus­wahl ihres Ana­ly­se­ge­gen­stands Harry Pot­ter er­klärt, wie sie den Ver­gleich zum NS be­grün­det, und ob ge­ra­de die­ser Ver­gleich neue Ein­sich­ten auf das ge­gen­wär­ti­ge Rechts­sys­tem geben kann oder nicht. 

"Das Staats­ex­amen un­ter­drückt alle krea­ti­ven Im­pul­se"

beck-ak­tu­ell: Wäh­rend Recht und Li­te­ra­tur als Dis­zi­plin in Deutsch­land ein Schat­ten­da­sein fris­tet, ist sie in an­de­ren Län­dern, bei­spiels­wei­se den USA, sehr po­pu­lär. Warum haben wir so wenig Zu­gang dazu?

Bayer: Ich glau­be, das hat viel mit der deut­schen Ju­ris­ten­aus­bil­dung zu tun. Das Staats­ex­amen un­ter­drückt alle krea­ti­ven Im­pul­se. Ich dach­te nach dem ers­ten Ex­amen, ich könn­te nie wie­der Jura ma­chen. Nicht, weil mir Jura an sich kei­nen Spaß ge­macht hätte, son­dern, weil ich ein Jahr lang nicht krea­tiv sein konn­te, nur ge­lernt habe. Die meis­ten, die Jura stu­die­ren, tun das doch, weil sie etwas mit Spra­che ma­chen, etwas be­we­gen, Ein­fluss neh­men wol­len. Das wird einem wäh­rend der Ex­amens­vor­be­rei­tung ab­trai­niert, man wird zu einer Art Sub­sum­ti­ons­ma­schi­ne.

In den USA gibt es eine grö­ße­re For­mof­fen­heit, was ver­mut­lich auch am Com­mon-Law-Sys­tem liegt, in dem "reine" Dog­ma­tik nicht so einen hohen Stel­len­wert hat wie hier. Wenn man ein Ur­teil aus den USA liest, wirkt das manch­mal mehr wie eine Ge­schich­ten­er­zäh­lung. Das ist ganz an­ders als un­se­re star­re Sub­sum­ti­on, die von ihrer Aus­rich­tung her ent­per­so­na­li­siert be­trie­ben wird. 

beck-ak­tu­ell: Kann Recht und Li­te­ra­tur viel­leicht dabei hel­fen, das Ver­ständ­nis dafür zu schär­fen? 

Bayer: Auf jeden Fall. Ich habe kürz­lich in Frank­furt an der Goe­the-Uni­ver­si­tät ein Se­mi­nar zu fe­mi­nis­ti­scher Straf­rechts­kri­tik un­ter­rich­tet. Dort haben wir mit den Stu­den­tin­nen – es waren tat­säch­lich nur Frau­en – klei­ne Sze­nen aus dem Thea­ter­stück "Prima Facie" von Suzie Mil­ler er­ar­bei­tet. Das Stück er­zählt die Ge­schich­te der Ver­ge­wal­ti­gung einer Straf­rechts­an­wäl­tin aus ihrer Per­spek­ti­ve. Es hat in Großbri­tan­ni­en zu Dis­kus­sio­nen über eine Re­form des Se­xu­al­straf­rechts ge­führt, weil es zeigt, dass se­xua­li­sier­te Ge­walt im ge­gen­wär­ti­gen Recht nicht hin­rei­chend auf­ge­ar­bei­tet wer­den kann. Das ganze Stück ist ein ein­zi­ger Mo­no­log. Damit zu ar­bei­ten war sehr in­ter­es­sant, weil es na­tür­lich so­fort dazu führt, dass die Teil­neh­me­rin­nen in die Sub­jekt­per­spek­ti­ve schlüp­fen. Die Sub­jekt­per­spek­ti­ve haben wir dann immer wie­der gegen die ob­jek­ti­ve Seite, das gel­ten­de Recht, und die an­de­re Sub­jekt­per­spek­ti­ve – die Schutz­rech­te des An­ge­klag­ten im Straf­pro­zess – ge­stellt und mit die­sen drei Ebe­nen ge­spielt.

beck-ak­tu­ell: Kunst hat viele Mög­lich­kei­ten, uns Dinge zu zei­gen und neue Per­spek­ti­ven zu er­öff­nen, aber sie kann auch ma­ni­pu­la­tiv sein, Dinge ver­zer­ren oder eine sehr ein­sei­ti­ge Sicht­wei­se ver­mit­teln. In­wie­fern geht mit der künst­le­ri­schen Ver­ar­bei­tung sol­cher The­men auch eine be­son­de­re Ver­ant­wor­tung ein­her?

Bayer: Ich würde sagen, po­li­ti­sche Thea­ter­ma­che­rin­nen und Thea­ter­ma­cher haben eine hohe ge­sell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung. Des­halb finde ich das dia­lek­ti­sche Thea­ter so wich­tig: Dort wird ver­sucht, mög­lichst viele Per­spek­ti­ven zu zei­gen, immer die Mög­lich­keit des an­de­ren mit­zu­den­ken, und da­durch den Zu­schau­er oder die Zu­schaue­rin selbst zur Re­flek­ti­on an­zu­re­gen. Das ist der An­spruch, den ich an meine Kunst habe.


Dr. Daria Bayer ist Ha­bi­li­tan­din am Lehr­stuhl für Straf­recht und Rechts­phi­lo­so­phie/Rechts­theo­rie der Mar­tin-Lu­ther-Uni­ver­si­tät Halle-Wit­ten­berg.

Das In­ter­view führ­te Ma­xi­mi­li­an Amos.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 23. August 2024.

Mehr zum Thema