beck-aktuell: Frau Dr. Bayer, Sie sind Mitarbeiterin an einem strafrechtlichen Lehrstuhl, haben aber ein sehr spezielles Interessengebiet, das man dort nicht unbedingt vermuten würde: Recht und Literatur. Ihre Dissertation trägt den Titel "Tragödie des Rechts", laut Beschreibung auf der Verlagsseite ist "Ziel des Buches (…), die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft zu durchbrechen". Was fasziniert Sie an der Überschneidung von Kunst und Recht?
Bayer: Die strikte Trennung von Recht und Literatur ist etwas Modernes. In den Ursprüngen der griechischen Tragödie sind beide Felder eng verbunden. Sie wurden nur durch die Spezialisierung der Disziplinen immer weiter getrennt. Mich interessieren aus rechtsphilosophischer und strafrechtstheoretischer Perspektive die Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und des Strafens und diese finden sich schon in den antiken Tragödien wieder. Gleichzeitig geht es mir darum, zukunftsgewandt neue Kommunikationsformen für die gegenwärtige Rechtskritik zu finden. Ein Theaterstück erlaubt es, Ambivalenzen zu zeigen und immer eine zweite Ebene mitzudenken: dass das, was gezeigt wird, nur eine Möglichkeit ist und nicht die einzige Realität.
beck-aktuell: Hinter dem Begriff Recht und Literatur steht eine Forschungsrichtung, die interdisziplinär zwischen Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft angesiedelt ist. Womit befasst man sich da konkret?
Bayer: Traditionell wird unterschieden zwischen Recht in der Literatur und Recht als Literatur. Recht in der Literatur betrachtet Werke, die sich mit dem Recht auseinandersetzen, und schaut, wie es darin verarbeitet wird. Recht als Literatur versteht vielmehr auch den Rechtstext als einen literarischen Text. Unsere juristischen Auslegungskanons sind aus dem Versuch entstanden, Texte zu interpretieren, und orientieren sich an literaturwissenschaftlichen Methoden. Schließlich gibt es noch eine dritte, neuere Kategorie, die man "Recht als Kultur" nennen könnte. Diese geht weiter und versucht, neue Formen zu finden, Recht und Literatur zu verbinden. In diese letzte Kategorie würde ich auch meine Dissertation einordnen.
"Cum-Ex bietet großes Potential fürs Theater"
beck-aktuell: In Ihrer Dissertation haben Sie eine Analyse der marxistischen Rechtskritik in die Form einer modernen Tragödie übertragen. Das heißt, Sie haben Ihre Dissertation wirklich als Theaterstück verfasst?
Bayer: Ein Teil der Dissertation ist als Theaterstück verfasst. Im Anschluss an das Stück folgt dann eine eher klassische wissenschaftliche Abhandlung. Ich habe versucht, das Hauptwerk von Paschukanis, die "Allgemein Rechtslehre des Marxismus", die bis heute eigentlich den Grundbaustein einer materialistischen Kritik des Rechts darstellt, auf ihre Aktualität hin zu beleuchten. Und den Kern dieser Untersuchung bildet das Stück, das ich auch mit meinem Theaterkollektiv inszeniert habe.
beck-aktuell: Da Sie es ansprechen: Sie haben nicht nur Ihre Dissertation inszeniert, sondern jüngst auch den Cum-Ex-Skandal als Theaterstück unter dem Titel "PubliCum Ex" aufgeführt. Was hat sie dazu bewogen, sich ausgerechnet dieses überaus komplizierte Thema herauszugreifen und es als Theaterstück zu inszenieren?
Bayer: Ein Stück zu Cum-Ex zu machen war nicht meine Idee, sondern die einer Vorstandskollegin aus meinem Theaterkollektiv, Leokadia Melchior. Ich war aber sofort begeistert. Der Stoff bietet großes Potenzial für eine theatrale Verarbeitung. Oft wird Recht und Literatur so verstanden, dass man sich einfach ein Buch nimmt, das sich irgendwie mit dem Recht auseinandersetzt, und dieses dann untersucht. Ich finde es spannender, in Bereiche zu gehen, wo das Recht sprachlos ist und das Theater eine Lücke füllen kann. In dieser Hinsicht hat der Cum-Ex-Stoff viel geboten, weil trotz der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und Strafprozesse viele Fragen ungeklärt geblieben sind. Insbesondere sind die Strukturen hinter Cum-Ex vielen Bürgerinnen und Bürgern bis heute unklar. Die Verarbeitung als Theaterstück ermöglicht es, diese Strukturen für ein größeres Publikum plastisch zu machen.
beck-aktuell: Inwiefern hilft Kunst generell dabei, komplexe Themen verständlich zu machen?
Bayer: Spezifisch im Theater kann man durch die Darstellung auf der Bühne Dinge vereinfachen und trotzdem in ihrer vollen Komplexität darstellen. Das geht zum Beispiel, indem ich einen Dialog zwischen zwei Personen inszeniere und gleichzeitig ein Video mit gegenläufigem Inhalt projiziere. Oder indem ich Körper und Stimme trenne: Eine Person spricht einen Text, eine andere reagiert mit dem Körper und formt eine Statue. Dadurch kann man zeigen, dass das, was gerade auf der Bühne passiert, immer nur ein Teil der Wahrheit ist. So füge ich eine neue Ebene hinzu, die das Geschauspielerte kritisch hinterfragt. Und man ist natürlich, wenn man ein Theaterstück inszeniert, selbst gezwungen, die Dinge auf das Wesentliche herunterzubrechen.
"Schirach schafft Aufmerksamkeit, schöpft die Mittel des Theaters aber nicht aus"
beck-aktuell: Ein anderer Jurist, der sich diesem Medium gewidmet hat, ist Ferdinand von Schirach. Er hat den berühmten Flugzeugabschussfall als Theaterstück geschrieben, ebenso ein Stück zur Sterbehilfe, beide sind verfilmt worden. Unter Juristinnen und Juristen wird sein Werk, das kommerziell sehr erfolgreich ist, oft sehr kritisch gesehen. Wie finden Sie seinen Ansatz, solche Rechtsfragen auf die Theaterbühne zu bringen?
Bayer: Bei aller berechtigten Kritik an Ferdinand von Schirach finde ich es zunächst einmal gut, dass er es schafft, ein großes Publikum für die Themen zu begeistern – und sein Erfolg ist ihm unbenommen. Aus meiner Sicht schöpft er aber die Mittel des Theaters, die ich gerade beschrieben habe, nicht aus: die Verfremdungseffekte, das Durchbrechen der vierten Wand, das Spiel zwischen den Schauspielenden. Mit all diesen Mitteln, die es ermöglichen, die Dinge in ihrer Komplexität darzustellen und Ambivalenzen aufzuzeigen, arbeitet Schirach nicht. Im Grunde ist sein Theater ein juristisches Fachgespräch in Dialogform verpackt. Und ich glaube, dass daher auch die oft kritisierte Unterkomplexität von Schirachs Stücken rührt. Denn dadurch, dass er nicht die ganze Bandbreite des Theaters ausschöpft, ist er natürlich limitiert darin, was er den Figuren in den Mund legen kann, damit das Publikum anderthalb oder zwei Stunden bei der Stange bleibt.
beck-aktuell: Nun gibt es noch andere Versuche, das Recht durch Literatur zu erschließen. Kürzlich haben wir auf beck-aktuell ein Interview mit Jannina Schäffer veröffentlicht, die in ihrer Dissertation Bezüge zwischen dem deutschen Recht und dem Rechtssystem in den Harry-Potter-Büchern untersucht. In den sozialen Netzwerken waren danach einige eher herablassende Reaktionen zu lesen, woraufhin sich eine Diskussion über Sinn und wissenschaftlichen Gehalt einer solchen Analyse entsponnen hat. Was glauben Sie, woher rühren diese Ressentiments?
Bayer: Ich habe diese Debatte natürlich mitbekommen, aber die Dissertation selbst nicht gelesen. Daher kann ich zum Inhalt nichts sagen. Mir scheint aber, dass sich die öffentliche Empörung weniger gegen die – den meisten unbekannte – Forschungsdisziplin Recht und Literatur gerichtet hat als gegen das Thema Harry Potter. Soweit ich es verstanden habe, zieht die Dissertation einen Vergleich zwischen dem fiktionalen Rechtssystem der Harry-Potter-Bücher und dem realen Unrechtssystem des Nationalsozialismus. Dies wurde als unpassend empfunden, da Harry Potter ein für Kinder geschriebenes Buch ist. Die eigentliche Frage, die mich interessieren würde, ist aber, wie die Autorin die Auswahl ihres Analysegegenstands Harry Potter erklärt, wie sie den Vergleich zum NS begründet, und ob gerade dieser Vergleich neue Einsichten auf das gegenwärtige Rechtssystem geben kann oder nicht.
"Das Staatsexamen unterdrückt alle kreativen Impulse"
beck-aktuell: Während Recht und Literatur als Disziplin in Deutschland ein Schattendasein fristet, ist sie in anderen Ländern, beispielsweise den USA, sehr populär. Warum haben wir so wenig Zugang dazu?
Bayer: Ich glaube, das hat viel mit der deutschen Juristenausbildung zu tun. Das Staatsexamen unterdrückt alle kreativen Impulse. Ich dachte nach dem ersten Examen, ich könnte nie wieder Jura machen. Nicht, weil mir Jura an sich keinen Spaß gemacht hätte, sondern, weil ich ein Jahr lang nicht kreativ sein konnte, nur gelernt habe. Die meisten, die Jura studieren, tun das doch, weil sie etwas mit Sprache machen, etwas bewegen, Einfluss nehmen wollen. Das wird einem während der Examensvorbereitung abtrainiert, man wird zu einer Art Subsumtionsmaschine.
In den USA gibt es eine größere Formoffenheit, was vermutlich auch am Common-Law-System liegt, in dem "reine" Dogmatik nicht so einen hohen Stellenwert hat wie hier. Wenn man ein Urteil aus den USA liest, wirkt das manchmal mehr wie eine Geschichtenerzählung. Das ist ganz anders als unsere starre Subsumtion, die von ihrer Ausrichtung her entpersonalisiert betrieben wird.
beck-aktuell: Kann Recht und Literatur vielleicht dabei helfen, das Verständnis dafür zu schärfen?
Bayer: Auf jeden Fall. Ich habe kürzlich in Frankfurt an der Goethe-Universität ein Seminar zu feministischer Strafrechtskritik unterrichtet. Dort haben wir mit den Studentinnen – es waren tatsächlich nur Frauen – kleine Szenen aus dem Theaterstück "Prima Facie" von Suzie Miller erarbeitet. Das Stück erzählt die Geschichte der Vergewaltigung einer Strafrechtsanwältin aus ihrer Perspektive. Es hat in Großbritannien zu Diskussionen über eine Reform des Sexualstrafrechts geführt, weil es zeigt, dass sexualisierte Gewalt im gegenwärtigen Recht nicht hinreichend aufgearbeitet werden kann. Das ganze Stück ist ein einziger Monolog. Damit zu arbeiten war sehr interessant, weil es natürlich sofort dazu führt, dass die Teilnehmerinnen in die Subjektperspektive schlüpfen. Die Subjektperspektive haben wir dann immer wieder gegen die objektive Seite, das geltende Recht, und die andere Subjektperspektive – die Schutzrechte des Angeklagten im Strafprozess – gestellt und mit diesen drei Ebenen gespielt.
beck-aktuell: Kunst hat viele Möglichkeiten, uns Dinge zu zeigen und neue Perspektiven zu eröffnen, aber sie kann auch manipulativ sein, Dinge verzerren oder eine sehr einseitige Sichtweise vermitteln. Inwiefern geht mit der künstlerischen Verarbeitung solcher Themen auch eine besondere Verantwortung einher?
Bayer: Ich würde sagen, politische Theatermacherinnen und Theatermacher haben eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Deshalb finde ich das dialektische Theater so wichtig: Dort wird versucht, möglichst viele Perspektiven zu zeigen, immer die Möglichkeit des anderen mitzudenken, und dadurch den Zuschauer oder die Zuschauerin selbst zur Reflektion anzuregen. Das ist der Anspruch, den ich an meine Kunst habe.
Dr. Daria Bayer ist Habilitandin am Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Das Interview führte Maximilian Amos.