Anforderungen an Rückkehrentscheidung gegen unbegleiteten Minderjährigen

Vor Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen muss ein Mitgliedstaat prüfen, ob für den Minderjährigen im Rückführungsstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist. Außerdem darf der Mitgliedstaat die Rückkehrentscheidung nicht vollstrecken, wenn zum Zeitpunkt der Abschiebung keine geeignete Aufnahmemöglichkeit mehr gewährleistet ist. Dies stellt der Europäische Gerichtshof klar.

Rückkehrentscheidung zulasten eines unbegleiteten 15-Jährigen

Im Juni 2017 stellte ein unbegleiteter Minderjähriger, der damals 15 Jahre und vier Monate alt war, in den Niederlanden einen Antrag auf eine befristete Aufenthaltserlaubnis für Asylbewerber. Im Rahmen dieses Antrags erklärte er, 2002 in Guinea geboren zu sein. Nach dem Tod seiner Tante, bei der er in Sierra Leone gelebt habe, sei er nach Europa gekommen. In Amsterdam sei er Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung geworden, weshalb er derzeit unter schwerwiegenden psychischen Störungen leide. Im März 2018 entschied der Staatssekretär für Sicherheit und Justiz der Niederlande von Amts wegen, dass dem Minderjährigen keine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann. Insoweit stellt das vorlegende Gericht klar, dass der Betroffene keinen Anspruch auf den Flüchtlingsstatus oder auf subsidiären Schutz habe. Nach niederländischem Recht gilt die Entscheidung des Staatssekretärs als Rückkehrentscheidung.

Betroffener beruft sich auf Fehlen geeigneter Aufnahmemöglichkeit in Heimat

Im April 2018 erhob der Minderjährige gegen die Entscheidung des Staatssekretärs beim vorlegenden Gericht Klage. Er macht geltend, dass er nicht wisse, wo seine Eltern wohnen. Er könne sie bei seiner Rückkehr auch nicht wiedererkennen. Andere Familienangehörige kenne er nicht. Das vorlegende Gericht erklärt, dass die niederländische Regelung nach dem Alter des unbegleiteten Minderjährigen unterscheidet. Bei unbegleiteten Minderjährigen, die zum Zeitpunkt der Beantragung von Asyl unter 15 Jahren seien, werde vor Erlass einer Entscheidung über diesen Antrag gemäß Art. 10 Richtlinie 2008/115/EG untersucht, ob eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat bestehe. Insoweit werde diesen Minderjährigen ein regulärer Aufenthaltstitel erteilt, wenn eine solche geeignete Aufnahmemöglichkeit fehle. Bei unbegleiteten Minderjährigen, die zum Zeitpunkt der Beantragung von Asyl 15 Jahre alt oder älter seien, finde keine solche Untersuchung statt.

Aufenthalt in Niederlanden bis zum Erreichen der Volljährigkeit geduldet

Die niederländischen Behörden schienen aber abzuwarten, bis die fraglichen Minderjährigen das Alter von 18 Jahren erreichten, um anschließend die Rückkehrentscheidung umzusetzen, so das vorlegende Gericht. Daher sei der Aufenthalt eines 15 Jahre alten oder älteren unbegleiteten Minderjährigen im Zeitraum zwischen seinem Asylantrag und dem Erreichen der Volljährigkeit in den Niederlanden illegal, aber geduldet. In diesem Kontext hat das vorlegende Gericht beschlossen, den Gerichtshof nach der unionsrechtlichen Vereinbarkeit der in der niederländischen Regelung enthaltenen Unterscheidung zwischen unbegleiteten Minderjährigen über 15 Jahren und unter 15 Jahren zu fragen.

EuGH: Wohl des Kindes in allen Verfahrensstadien zu berücksichtigen

Der Gerichtshof stellt fest, dass ein Mitgliedstaat, der den Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß der Rückführungsrichtlinie gegen einen unbegleiteten Minderjährigen in Betracht zieht, in allen Stadien des Verfahrens zwingend das Wohl des Kindes zu berücksichtigen habe, was die Vornahme einer umfassenden und eingehenden Beurteilung der Situation des Minderjährigen voraussetze. Wenn der betreffende Mitgliedstaat eine Rückkehrentscheidung erließe, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, ob es im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit gibt, hätte das zur Folge, dass der Minderjährige, obgleich eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen wurde, nicht abgeschoben werden könnte, wenn keine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist.

Keine Rückkehrentscheidung bei Fehlen geeigneter Aufnahmemöglichkeit

Ein solcher Minderjähriger würde somit in eine Situation großer Unsicherheit hinsichtlich seiner Rechtsstellung und seiner Zukunft versetzt, insbesondere in Bezug auf seine Schulausbildung, seine Verbindung zu einer Pflegefamilie oder die Möglichkeit, in dem betreffenden Mitgliedstaat zu bleiben. Dies liefe der Anforderung zuwider, dass das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen ist. Folglich könne gegen den betreffenden Minderjährigen keine Rückkehrentscheidung ergehen, wenn im Rückkehrstaat keine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht.

Alter des unbegleiteten Minderjährigen nicht allein entscheidend

Der EuGH stellt insoweit klar, dass das Alter des fraglichen unbegleiteten Minderjährigen nur einen von mehreren Gesichtspunkten darstellt, um zu prüfen, ob im Rückführungsstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist, und um festzustellen, ob das Wohl des Kindes dazu veranlassen muss, keine Rückkehrentscheidung gegen diesen Minderjährigen zu erlassen. Daher dürfe ein Mitgliedstaat bei unbegleiteten Minderjährigen nicht nach dem alleinigen Kriterium des Alters unterscheiden, wenn er prüft, ob eine solche Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist.

Aufschieben der Abschiebung bei vorhandener Aufnahmemöglichkeit unzulässig

Allerdings treffe die Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG auch die Pflicht, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und sie innerhalb kürzester Frist abzuschieben (vgl. Art. 8 RL 2008/115/EG). Deswegen laufe es der Rückführungsrichtlinie zuwider, wenn ein Mitgliedstaat, nachdem er gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen eine Rückkehrentscheidung erlassen und sich vergewissert hat, dass es im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit gibt, anschließend davon absieht, ihn abzuschieben, bis er das Alter von 18 Jahren erreicht. In diesem Fall müsse der betreffende Minderjährige vorbehaltlich der Entwicklung seiner Situation aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats abgeschoben werden. In der zuletzt genannten Hinsicht stellt der Gerichtshof fest, dass der betreffende Mitgliedstaat die Rückkehrentscheidung nicht vollstrecken darf, falls zum Zeitpunkt der geplanten Abschiebung des unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat keine geeignete Aufnahmemöglichkeit mehr gewährleistet ist.

EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19

Redaktion beck-aktuell, 14. Januar 2021.