In Ungarn trat 2021 ein Gesetz "über ein strengeres Vorgehen gegen pädophile Straftäter und die Änderung bestimmter Gesetze zum Schutz von Kindern" in Kraft. Es enthält Regelungen, die den Zugang Minderjähriger zu Inhalten, etwa im Fernsehen, verbieten oder einschränken, die Homosexualität, Transsexualität, Geschlechtsumwandlung darstellen oder fördern. Ungarn begründete die Regelungen mit dem Jugendschutz.
Die EU-Kommission leitete gegen Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Neben Verstößen gegen Primär- und Sekundärrecht rügte sie Verstöße gegen die EU-Grundrechtecharta sowie gegen die Werteklausel des Art. 2 EUV.
Verstoß gegen Unionsrecht
Die EuGH-Generalanwältin sieht die Klage in allen Punkten begründet (Schlussanträge vom 05.06.2025- C-769/22). Die Regelungen verstießen gegen die Freiheit, Dienstleistungen zu erbringen und in Anspruch zu nehmen. Ferner verletzten sie mehrere Grundrechte der Charta: das Verbot einer Diskriminierung wegen des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung, die Achtung des Privat- und Familienlebens, die Meinungs- und Informationsfreiheit sowie das Recht auf Menschenwürde.
Die von Ungarn vorgebrachten Gründe könnten die Grundrechtseingriffe nicht rechtfertigen. Denn unter Berufung auf den Jugendschutz werde die Darstellung des normalen Lebens queerer Menschen verboten. Die Regelungen beschränkten sich nicht darauf, Minderjährige von pornografischen Inhalten abzuschirmen, die in Ungarn schon vorher verboten gewesen seien. Laut Generalanwältin beruhen sie auf einem Werturteil, dass homosexuelles und nicht cisgeschlechtliches Leben nicht den gleichen Wert oder Rang habe wie heterosexuelles und cisgeschlechtliches Leben.
Eigenständiger Verstoß gegen Werteklausel: EU-Grundwerte negiert
Die Generalanwältin sieht zudem auch einen eigenständigen Verstoß gegen Art. 2 EUV, der die grundlegenden Werte der Union enthält. Für die Annahme eines solchen Verstoßes reichten nicht unterschiedliche Ansichten über den Inhalt von Grundrechten oder Abweichungen bei der Abwägung mehrerer Grundrechte. Sie seien Teil des Verfassungsdialogs in der Unionsrechtsordnung. Ein Verstoß gegen Art. 2 EUV sei nur dann festzustellen, wenn ein Mitgliedstaat gegen ein Recht aus der Charta verstoßen habe, weil er den Wert, den dieses Recht konkretisiere, negiert habe.
Das sei hier der Fall. Die Tatsache, dass queere Menschen in den Mitgliedstaaten die gleiche Achtung verdienten wie andere Personen, sei nicht im Wege des Dialogs verhandelbar. Fehlende Achtung und Ausgrenzung einer Gruppe in einer Gesellschaft seien die "roten Linien", die die Werte der Gleichheit, der Menschenwürde und der Wahrung der Menschenrechte vorgäben.
Im März beschloss das ungarische Parlament unter Berufung auf den Kinderschutz ein Verbot der Pride-Parade. Laut Tagesschau fordern deshalb zahlreiche EU-Staaten die EU-Kommission auf, härter gegen Ungarn vorzugehen.