"Aus Tradition" – Russland lockert Strafen bei häuslicher Gewalt

Eine Handvoll Menschen steht vor dem Parlamentsgebäude im Zentrum von Moskau. Bei bitterer Kälte demonstrieren sie eingemummt in Mützen und dicken Jacken gegen eine Gesetzesinitiave gegen häusliche Gewalt. Auf Plakaten prangern sie an, was am 27.01.2017 in der mächtigen Duma durchgewunken wird. "Ich bin gegen die Schläge", heißt es auf einem Schild. "Das schützt niemanden", steht auf einem anderen Plakat. Es ist ein einsamer Kampf der Aktivisten – und sie sind machtlos. Denn eine überwältigende Mehrheit der Duma-Abgeordneten billigt in drei Lesungen ein Gesetz, das Strafen bei häuslicher Gewalt in bestimmten Fällen lockert.

Gewalt in Familien oft nur noch Ordnungswidrigkeit

Wer in Russland seine Frau, Kinder oder andere Angehörige verprügelt, wurde bislang mit Haft von bis zu zwei Jahren bestraft. Nun soll sich das ändern: Gewalt wird nicht mehr als Straftat behandelt, sondern lediglich als Ordnungswidrigkeit gewertet. Eine härtere Strafe soll nur dann verhängt werden, wenn die Schläge mehr als einmal im Jahr vorkommen, Blutergüsse sichtbar sind oder Knochen brechen. Für die Opfer wird es daher schwierig, Beweise vorzulegen. Und es dürfte schwerer werden, die Täter zu bestrafen.

Schläge als Bestandteil "russischer Familientradition"

Die konservative Abgeordnete und Vorsitzende des Familienausschusses, Jelena Misulina, hatte das Gesetz initiiert. Ihr Argument: Ein Gefängnisaufenthalt wegen eines simplen "Klapses" verschlechtere lediglich das Familienklima. "Das ist ein familienfeindlicher Zustand", argumentierte sie im Parlament. Denn: Schläge seien ein adäquates Mittel zur Erziehung – und entsprächen der russischen Familientradition. "Wir wollen nicht, dass man zwei Jahre im Gefängnis sitzt, nur weil es einmal einen Klaps gegeben hat."

Auch russisch-orthodoxe Kirche sieht in körperlicher Züchtigung wichtiges Elternrecht

Ihrer Ansicht nach hätten zum Beispiel Eltern in vielen Fällen gar keine andere Wahl, als die Kinder mit Gewalt auf den richtigen Weg zu bringen. "In Russland basieren die Familienwerte auf der Autorität der Eltern", sagt Misulina. Das neue Gesetz solle diese Tradition schützen. Auch die russisch-orthodoxe Kirche unterstützt das Gesetz. Körperliche Züchtigung sei "ein wichtiges Recht, das den Eltern von Gott gegeben worden ist", ließ die Kirche bereits 2016 verlautbaren.

Etwa 12.000 Frauen sterben in Russland jährlich an Folgen häuslicher Gewalt

Über das Martyrium in der Öffentlichkeit zu sprechen, ist ein Tabu in Russland – auch wenn tagtäglich zahlreiche Frauen und Kinder unter Misshandlungen leiden. Nach Angaben der russischen Regierung aus dem Jahr 2013 geschehen rund 40% der Körperverletzungen innerhalb der eigenen vier Wände. Etwa 36.000 Frauen leiden in Russland jeden Tag unter den Schlägen ihrer Männer, 26.000 Kinder werden täglich von ihren Eltern misshandelt. Knapp alle 40 Minuten kommt eine Frau durch häusliche Gewalt ums Leben, insgesamt sterben deswegen pro Jahr in Russland etwa 12.000 Frauen an den Folgen der Gewalt. Viele Fälle werden nicht bekannt, denn Opfer wollen nicht darüber sprechen.

Auch Kreml für Lockerungen bei Bestrafung häuslicher Gewalt

Im Sommer 2016 hatte Misulina, die eine der treibenden Kräfte hinter dem Gesetz gegen sogenannte Homosexuellen-Propaganda war, den Vorschlag der Duma vorgelegt. Auch in der dritten Lesung wurde das Gesetz von 380 der 383 anwesenden Abgeordneten angenommen. Nun muss es nur noch vom Föderationsrat genehmigt werden. Bevor das Gesetz in Kraft tritt, muss es routinemäßige von Präsident Wladimir Putin abgesegnet werden. Doch dies ist nur ein formaler Akt. Der Kreml hatte bereits angekündigt, dass er Misulinas Entwurf unterstütze.

Befürworter sehen durch Lockerungen Schutz der Familie gewahrt

Die Kreml-Partei Geeintes Russland votierte einstimmig für das Projekt. Gewalt in der Familie sei ein vollkommen anderes Vergehen als Gewalt auf der Straße und müsse daher auch anders bewertet werden, sagte der Abgeordnete Andrej Issaew. Auch Wladimir Schirinowski von der rechtspopulistischen LDPR betonte, dass das Gesetz "die Familie bewahrt, nicht auseinanderreißt".

Hilfsorganisation: Gesetz wird Schweigen über häusliche Gewalt verstärken

Viele russische Beobachter finden jedoch, dass das Gesetz eindeutig zu weit geht. Nach Meinung der Moskauer Hilfsorganisation "Schwestern" habt das Gesetz die Hemmschwelle für Opfer nur noch weiter an, in der Öffentlichkeit über die Misshandlungen zu sprechen. "Viele Frauen akzeptieren jetzt schon die häusliche Gewalt und schweigen über ihr Schicksal. Das neue Gesetz wird das nur noch schlimmer machen", sagt die Leiterin Olga Jurkowa der regierungskritischen Zeitung "Nowaja Gaseta".

Redaktion beck-aktuell, Claudia Thaler, 30. Januar 2017 (dpa).