BGH: Kognitives Element des Eventualvorsatzes bedarf bei Tötungsdelikten genauer Prüfung

StGB §§ 212, 22, 23

1. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, und dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet; beide Elemente der inneren Tatseite müssen in jedem Einzelfall gesondert geprüft werden.

2. Es bedarf einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände, bei der die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Gegebenheiten zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ein wesentlicher Indikator ist. (Leitsätze des Verfassers)

BGH, Beschluss vom 22.12.2016 - 1 StR 571/16, BeckRS 2016, 115541

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Sven Güttner, Knierim & Krug Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 05/2017 vom 16.03.2017

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Strafrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Strafrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Strafrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

Sachverhalt

Zwischen A und dem Geschädigten U kam es in der Wohnung des A zu einem Zerwürfnis. U versetzte dem A zwei Faustschläge. Der ebenfalls anwesende H forderte U zum Gehen auf. A fasste wütend den Entschluss U zu erschießen. Er holte eine Schreckschusswaffe hervor deren Lauf so manipuliert war, dass damit Kartuschenmunition, Kaliber 9 mm, versehen mit einer nachgefertigten Stahlrundkugel, Kaliber 4 mm, mit einer Masse von 0,26 g, verschossen werden konnte. H hatte die Bewaffnung des A wahrgenommen, warnte U und forderte ihn zur Flucht auf. Dem kam U nach und lief den vor der Wohnung gelegenen Treppenabsatz bis zu dem vor der Haustür gelegenen zweiten Treppenabsatz hinunter. H verließ ebenfalls die Wohnung, zog die Wohnungstüre hinter sich zu und hielt die Türklinke fest. U blieb stehen. A stellte fest, dass die Tür von außen zugehalten wurde, er wusste auch, dass dies durch H erfolgte. Er beschloss, sich den Weg frei zu schießen und schoss – ohne die Schussbahn zu berechnen – schräg von oben nach unten durch die Wohnungstüre. Die Stahlrundkugel durchschlug das hölzerne Türblatt und verfehlte H, dessen Verletzung A billigend in Kauf genommen hatte. Die Kugel schlug auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstür auf dem Boden des Hausflurs auf, prallte von dort wieder ab und flog als Querschläger über die Treppenstufen hinweg in Richtung des unteren Treppenabsatzes und traf U dort an der linken Flanke. Das Durchdringen des Türblattes in schräger Bahn hatte allerdings zu einer Drosselung der Geschwindigkeit und einer Herabsetzung der Energiedichte geführt, sodass das Geschoss nur eine Prellmarke verursachte. U floh. A setzte nach. Seine Versuche, erneut auf U zu schießen, scheiterten jedoch an einer Ladehemmung. Als er diese beseitigt hatte, war U nicht mehr zu sehen. Das LG hat A ua wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich A.

Rechtliche Wertung

Auf die Revision des A hat der BGH das Urteil mit den Feststellungen aufgehoben. Die Beweiswürdigung zur inneren Tatseite habe demnach keinen Bestand. Der BGH hat sich den Ausführungen des GBA angeschlossen, welcher der Verurteilung wie folgt entgegen trat: „Die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite im Moment der Schussabgabe durch die Wohnungstür begegnen rechtlichen Bedenken. Dies gelte zwar nicht für die Annahme, der A habe dabei eine Verletzung der Zeugen H und U zumindest billigend in Kauf genommen, wohl aber für die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes zum Nachteil des U. Es fehle diesbezüglich an einer nachvollziehbaren Beweiswürdigung zum kognitiven Vorsatzelement. Bedingt vorsätzliches Handeln setze voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, und dass er ihn billige oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfinde. Beide Elemente der inneren Tatseite müssen in jedem Einzelfall gesondert geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Es bedürfe einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände, bei der die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Gegebenheiten zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ein wesentlicher Indikator sei. Neben der konkreten Angriffsweise seien dabei regelmäßig auch die Persönlichkeit des Täters, sein psychischer Zustand zum Tatzeitpunkt und seine Motivation mit einzubeziehen. Zur objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung hatte das Gericht festgestellt, dass das aufgrund Durchschlagens des Türblatts abgebremste Geschoss allenfalls bei einem Auftreffen auf das Auge in einen menschlichen Körper hätte eindringen können und unabhängig von der Stelle des Auftreffens nicht geeignet gewesen wäre, lebensgefährliche Verletzungen herbeizuführen. Hierauf komme es jedoch, so die Kammer, nicht an, da A nicht zu einer Einschätzung der Energiedichte als Maßstab für ein Eindringen des Geschosses in den menschlichen Körper nach Durchschlagen der Tür in der Lage gewesen sei. Dieser Erwägung begegnen deshalb Bedenken, weil die Erkenntnis, dass Projektile durch das Durchschießen von Gegenständen abgebremst werden, allgemeinkundig sein dürfte. Die Kammer habe weiter festgestellt, der A habe bei der Schussabgabe durch seine Wohnungstür keine Berechnung der Schussbahn vorgenommen; er sei hierzu auch nicht in der Lage gewesen. Gleichwohl solle A damit gerechnet haben, dass U sich noch im Treppenhaus und dort gerade an einer solchen Stelle aufhalten könnte, an der er von einem unkontrolliert umherfliegenden Querschläger (lebensgefährlich) hätte getroffen werden können. Worauf sich diese Behauptung zum angeblichen Vorstellungsbild des A stütze, bleibe offen. A habe – ausweislich der Feststellungen – zuvor lediglich wahrgenommen, dass der U vor ihm davonlief und H dessen Verfolgung dadurch zu behindern versuchte, dass er die Wohnungstür von außen zuhielt. Dies spricht, ebenso wie die Feststellung, A habe deshalb von der Waffe Gebrauch gemacht, weil er sich den Weg habe 'freischießen' wollen, dagegen, dass der A mit der Möglichkeit rechnete, U könne bei einer Schussabgabe durch die Tür (tödlich) getroffen werden.“

Praxishinweis

Wann ein Eventualvorsatz insbesondere bei Tötungsdelikten gegeben ist, ist seit jeher streitig und wie zuletzt die Entscheidung des LG Berlins zu den sog. „Ku‘damm-Rasern“ zeigt auch nach wie vor aktuell. Nun ist dort eher das voluntative Element im Streit, aber wie die vorliegende Entscheidung zeigt, kann auch das kognitive Element beim Tötungsvorsatz von entscheidender Bedeutung sein. Den Ausführungen des GBA ist zuzustimmen. Dass A mit derselben Handlung sich den Weg „freischießen“ wollte und gleichzeitig damit rechnete den U mit einem Querschläger – der wie zutreffend ausgeführt – erheblich an ballistischer Kraft verloren hatte, tödlich getroffen wird, ist schon zweifelhaft. A wusste nicht, wo U sich befand, er schoss von oben nach unten durch die Tür, was dagegen spricht, dass er den H – jedenfalls tödlich – treffen wollte, sondern sich schnell Zugang nach draußen verschaffen wollte. Zutreffend führt der GBA aus, dass das Abbremsen bzw. der Energieverlust (oft auch die Deformation) eines Projektils nach dem Auftreffen auf einen festen Gegenstand allgemeinkundig sein dürfte. Dies gilt erst recht, da das verwendete Projektil lediglich ein Kaliber von 4 mm hatte und selbst nach Auffassung des Gerichts – in der vorliegenden Konstellation – nur bei einem Eintritt über das Auge hätte tödlich sein können. A habe auch die Flugbahn nicht berechnet. Für letzteres spricht wohl auch, dass er in Rage gewesen sein soll, was auch gegen die Wissenskomponente bei der Abgabe des Schusses spricht. Es kommt auf die Vorstellung des Täters bei der Tatausführung (hier: Schuss durch die Tür) an, die regelmäßig aus den objektiven Umständen zu ermitteln ist.

Redaktion beck-aktuell, 17. März 2017.