SG Frankfurt/Oder: Bemessung des Pflegegeldes gem. § 44 SGB VII

SGB VII § 44

Die „Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegeldes" gem. § 44 Abs. 1 und 2 SGB VII haben nicht den Charakter eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung, sodass sie für die Gerichte nicht bindend und ihre schematische Anwendung ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelfalles unzulässig ist. Die Anhaltspunkte erzeugen eine aus dem Gleichheitssatz abzuleitende Selbstbindung der Verwaltung, ein Abweichen im Einzelfall zu Lasten des Versicherten ohne besondere Gründe ist deshalb ermessensfehlerhaft. (Leitsatz des Verfassers)

SG Frankfurt/Oder, Urteil vom 09.05.2018 - S 18 U 126/15, BeckRS 2018, 18802

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 20/2018 vom 12.10.2018

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Sachverhalt

Die 1952 geborene Klägerin erlitt 1969 einen versicherten Schulunfall, als es bei einer Vorwärtsrolle im Sportunterricht zu einem Bruch des 6. Halswirbels und einer Stauchung der Halswirbelsäule kam. Die Klägerin erlitt als Folge dessen eine Schädigung des Rückenmarks und eine inkomplette Tetraplegie. Sie arbeitete ab 1973 als Sachbearbeiterin an einer polytechnischen Oberschule und seit 1980 als Verwaltungskraft in einem Altenheim. Diese Arbeit konnte sie nur halbtags verrichten. Die Klägerin bezieht eine Verletztenrente nach einer MdE von 100%. Zunächst war die Klägerin in der Lage, sich mit Hilfe von 2 Stockstützen und ergänzend mit einem Rollstuhl selbständig fortzubewegen. Die Klägerin wurde von der Beklagten durch die Gewährung von Teilhabeleistungen zum Erhalt des Arbeitsplatzes unterstützt. Die Beklagte gewährte auch ein Pflegegeld. Mit Rücksicht auf das Nachlassen der Gehfähigkeit stellte die Klägerin einen Antrag auf Überprüfung der Höhe des Pflegegeldes. Mit angefochtenen Bescheiden aus 2011 und 2014 bewilligte die Beklagte ab 01.08.2013 Pflegegeld in Höhe von 60 % des Höchstsatzes. Den Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X lehnte die Beklagte ab. Dagegen richtet sich die Klage der Klägerin. Nach den Anhaltspunkten zu § 44 SGB VII sei das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit durch einen sachverständigen Arzt zu bestimmen. Auf Basis eines eingeholten Gutachtens sei das Pflegegeld beginnend ab dem 01.01.2011 bis zum 31.05.2013 in Höhe von 60 % des Höchstsatzes zu bewilligen.

Entscheidung

Das SG gibt der Klage statt nach Einholung umfangreicher Sachverständigengutachten. Die Klägerin litt unfallbedingt im streitgegenständlichen Zeitraum nach den Gutachten unter einer inkompletten spastischen Tetraparese mit Schwäche der Hände, des Rumpfes und der Beine, einer neurogenen Blasen- und Mastdarmlähmung sowie Bewegungseinschränkung der HWS, einer spinalen Spastik und belastungsbedingt unter einem Karpaltunnelsyndrom beidseits. 2013 trat als Folge eines Folgeunfalls noch ein behandlungsbedürftiger Oberschenkelhalsbruch hinzu. Als Folge dieser Gesundheitsstörung ist die Klägerin hilflos i.S.d. § 44 Abs. 1 SGB VII, da sie in Bezug auf ihre Selbstversorgung und insbesondere den Bereich der Mobilität regelmäßig wiederkehrend – im Fall der Klägerin jeden Tag – in erheblichem Maß auf die Hilfe ihres Ehemannes als Pflegeperson angewiesen ist. Maßgebend sind hier die Anhaltspunkte, die der Beklagten einen Ermessensspielraum einräumen. Die schematische Anwendung der Anhaltspunkte ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Falles ist schon nach Punkt 1.3 der „Anhaltspunkte" sowie der Rechtsprechung des BSG unzulässig. Sie sehen keine festen Vomhundertsätze des Höchstbetrages vor, sondern Bandbreiten. Das SG bejaht hier die Kategorie II (80-60 %) „erhebliche Beeinträchtigungen" und stützt sich dabei auch auf Gutachten. Die Klägerin benötigt bei einer Vielzahl von Tätigkeiten die Hilfe ihres Ehemannes, welcher der Klägerin assistierend beistehen muss, bzw. in Bereitschaft zur Pflege stehen muss. Dieses betrifft auch die Benutzung der Toilette, was eine Rufbereitschaft auch des nachts erfordert.

Praxishinweise

Das SG knüpft an die Anhaltspunkte an und bewertet diese zutreffend als eine Art Verwaltungsvorschrift, die zwar keinen Normcharakter hat, aber als Mittel zur Gleichbehandlung dient, auch insoweit, als die BG ein Ermessen hat. Das SG nimmt ausführlich Stellung zu der von der Klägerin selbst, ihrem Ehemann aber auch den Gutachtern beschriebenen Pflegesituation. Von besonderer Bedeutung ist der Hinweis darauf, dass die Klägerin nicht verpflichtet werden kann, einen Katheter zu benutzen, um z.B. den Toilettengang des nachts zu ersparen. Hier kämen allenfalls Mitwirkungsobliegenheiten gem. §§ 63, 64 SGB I in Betracht, die zweifelsohne bei einer so schweren Schädigung alsbald die Grenzen der Zumutbarkeit gem. § 65 SGB I überschreiten.

Redaktion beck-aktuell, 19. Oktober 2018.