BGH: Rechtsanwaltskosten einer anwaltlichen Tätigkeit in Unkenntnis der zwischenzeitlich erfolgten Berufungsrücknahme ersatzfähig

ZPO § 91 I 1

Der Antrag auf Zurückweisung der Berufung, der in Unkenntnis der Berufungsrücknahme erfolgt, ist eine aus der maßgebenden Sicht einer verständigen und wirtschaftlich vernünftig denkenden Partei zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig im Sinne von § 91 I 1 ZPO. Darauf, dass es der Beauftragung eines Anwalts in Anbetracht der zuvor erfolgten Rücknahme der Berufung objektiv nicht bedurfte, kommt es nicht an. (Leitsatz der Schriftleitung)

BGH, Beschluss vom 10.04.2018 - VI ZB 70/16, BeckRS 2018, 24938

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl

Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Kostenrecht 22/2018 vom 31.10.2018

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Sachverhalt

Der Kläger legte mit Schriftsatz vom 16.6.2016 Berufung gegen das klageabweisende Endurteil des LG ein. Der Schriftsatz wurde den Prozessbevollmächtigen der Beklagten am 28.6.2016 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 24.6.2016, eingegangen beim OLG am selben Tag und den Beklagtenvertretern zugestellt am 5.7.2016, nahm der Kläger die Berufung zurück. Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten beantragten mit Schriftsatz vom 1.7.2016, eingegangen beim OLG am 6.7.2016, die Zurückweisung der Berufung. Mit Beschluss vom 28.6.2016 erlegte das Oberlandesgericht dem Kläger nach § 516 III ZPO die Kosten des Berufungsverfahrens auf und setzte den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 70.000 EUR fest.

Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten beantragten mit Schriftsatz vom 26.7.2016 die Festsetzung von Rechtsanwaltskosten für das Berufungsverfahren iHv insgesamt 1.768,70 EUR (1,1-fache Verfahrensgebühr gem. VV 3201 RVG aus einem Gebührenwert von 70.000 EUR sowie Pauschale gem. VV 7002 RVG zzgl. USt). Auf Hinweis der Rechtspflegerin vom 12.8.2016 teilten sie mit, die am 28.6.2016 zugestellte Berufungsschrift habe ein bis zwei Arbeitstage später zur Bearbeitung vorgelegen. Im Auftrag der Beklagten sei wie üblich eine Prüfung der Formalien erfolgt und sodann der Bestellungsschriftsatz diktiert worden, datiert auf den 1.7.2016, sodass eine Befassung vor Zustellung und Kenntnis der Berufungsrücknahme vorliege. Die Rechtspflegerin wies mit Beschluss den Festsetzungsantrag der Beklagtenseite zurück. Die Beklagte legte gegen diesen Beschluss sofortige Beschwerde ein und begründeter diese damit, dass die (anwaltliche) Tätigkeit erst nach Zustellung der Berufungsrücknahme habe eingestellt werden können. Das Beschwerdegericht hob den Beschluss des Landgerichts auf und setzte die von der Klagepartei an die Beklagtenpartei zu erstattenden Kosten wie von der Beklagten beantragt fest. Mit seiner Rechtsbeschwerde wandte sich der Kläger gegen die Festsetzung der anwaltlichen Kosten iHv 1.768,70 EUR zugunsten der Beklagten. Die Rechtsbeschwerde hatte keinen Erfolg.

Entscheidung: Verobjektivierte ex-ante-Sicht als Maßstab

Maßstab für die Notwendigkeit von Kosten zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung iSd § 91 I 1 ZPO sei, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftig denkende Partei die Kosten auslösende Maßnahme im damaligen Zeitpunkt als sachdienlich ansehen durfte. Abzustellen sei mithin auf die Sicht der Partei in der konkreten prozessualen Situation und dann zu beurteilen, ob ein objektiver Betrachter aus diesem Blickwinkel die Sachdienlichkeit bejahen würde. Die Notwendigkeit bestimme sich daher aus der „verobjektivierten“ ex-ante-Sicht der jeweiligen Prozesspartei und nicht nach einem rein objektiven Maßstab.

Da die seitens der Prozessbevollmächtigten der Beklagten erbrachte anwaltliche Tätigkeit im Streitfall in Unkenntnis der Berufungsrücknahme erfolgte, sei diese Tätigkeit im damaligen Zeitpunkt aus der maßgebenden Sicht einer verständigen und wirtschaftlich vernünftig denkenden Partei zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig iSv § 91 I 1 ZPO gewesen.  Darauf, dass es der Beauftragung eines Anwalts in Anbetracht der zuvor erfolgten Rücknahme der Berufung objektiv nicht mehr bedurfte, komme es – entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde – nicht an.

Soweit sich die Rechtsbeschwerde zur Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung auf einen Beschluss des III. Zivilsenats vom 25.2.2016 (BeckRS 2016, 05436) stütze, dringe sie nicht durch. In jenem Fall habe der Berufungsbeklagte durch Zugang des Hinweises nach § 522 II 2 ZPO Kenntnis von der Absicht des Berufungsgerichts erlangt, die Berufung zurückzuweisen. Aus der Sicht einer vernünftig und wirtschaftlich denkenden Partei habe daher kein Anlass bestanden, durch Anwaltsschriftsatz einen Berufungsgegenantrag zu stellen. Auch die Entscheidung des I. Zivilsenats des BGH zu den Kosten für eine Schutzschrift, die nach Rücknahme des Antrags auf einstweilige Verfügung eingereicht wurde, stehe der vorliegenden Entscheidung nicht entgegen. Soweit darin ein rein objektiver Maßstab zugrunde gelegt worden sei (NJW-RR 2007, 1575), würden die Ausführungen hierzu die Entscheidung nicht tragen, weil die verfahrensgegenständlichen Kosten bereits vor der Rücknahme angefallen waren. Entsprechendes gelte für die Entscheidung des I. Zivilsenats zu Kosten für den Zurückweisungsantrag in einem Berufungsverfahren, in welcher die Erstattungsfähigkeit der reduzierten Verfahrensgebühr schon nicht angegriffen war (BeckRS 2017, 140357).

Schließlich sei das Ergebnis auch sachgerecht. Die mit einem Rechtsmittel überzogene Partei könne regelmäßig nicht selbst beurteilen, was zur Rechtsverteidigung zu veranlassen ist. Ihr könne daher nicht zugemutet werden, zunächst die weiteren Entschließungen des anwaltlich vertretenen Berufungsklägers abzuwarten. Dieser habe es vielmehr in der Hand, durch seinen Prozessbevollmächtigten die Gegenseite von einer (eventuell) beabsichtigten Berufungsrücknahme frühzeitig zu informieren.

Praxishinweis

Nachdem der BGH (BeckRS 2017, 102206 mAnm Mayer FD-RVG 2017, 387420) zumindest für den Bereich der Erstattung der Kosten iSv § 80 S. 1 FamFG von seiner Entscheidung (BeckRS 2016, 05436 mAnm Mayer FD-RVG 2016, 377257) abgerückt war, in der er eine Kostenerstattung bei Stellung eines Berufungsrückweisungsantrags nach Rücknahme der Berufung verneint hatte, hat er sich in der berichteten Entscheidung nunmehr auch für den Bereich des § 91 I 1 ZPO auf den zutreffenden Standpunkt gestellt, dass die dem Berufungsbeklagten entstandenen Rechtsanwaltskosten erstattungsfähig sind, wenn die anwaltliche Tätigkeit – Antrag auf Zurückweisung der Berufung – in Unkenntnis der zwischenzeitlich erfolgten Berufungsrücknahme erfolgt. Entscheidender Gesichtspunkt nach dem BGH zur Abgrenzung von der Entscheidung BeckRS 2016, 05436 war, dass in jenem Verfahren der Berufungsbeklagte durch Zugang des Hinweises nach § 522 II 2 ZPO Kenntnis von der Absicht des Berufungsgerichts erlangt hatte, die Berufung zurückzuweisen, sodass dann aus der Sicht einer vernünftigen und wirtschaftlich denkenden Partei kein Anlass mehr bestanden habe, durch Anwaltsschriftsatz einen Berufungsgegenantrag zu stellen.

Redaktion beck-aktuell, 8. November 2018.