BGH: Ergänzende Auslegung der Alleinerbeinsetzung durch Zuwendung einer den Nachlass erschöpfenden Sachgesamtheit bei Hinzuerwerb weiteren Vermögens

FamFG § 74; BGB §§ 2084, 2087, 2088, 2100

Wenn der Erblasser durch letztwillige Zuwendung einer Sachgesamtheit den Nachlass erschöpfen und gleichzeitig einen Bedachten zum Alleinerben einsetzen wollte, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die durch Auslegung ermittelte Erbeinsetzung nach dem Regelungsplan des Erblassers auch den nachfolgenden, unvorhergesehenen Vermögenserwerb erfassen sollte.  (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschluss vom 12.07.2017 - IV ZB 15/16, BeckRS 2017, 119417

Anmerkung von 
JR Dr. Wolfgang Litzenburger, Notar in Mainz
 
Aus beck-fachdienst Erbrecht 08/2017 vom 28.8.2017

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Sachverhalt

2007 errichtete die Erblasserin ein handschriftliches Testament, das wie folgt lautet:

„1) Haus- und Grundbesitz in Xanten, …, incl. der gesamten Einrichtung sollen Herrn J. L., geb. am 11.01.1945 bis an sein Lebensende zur eigenen Nutzung zur Verfügung stehen. Er ist verpflichtet den gesamten Besitz zu pflegen, ausreichend zu versichern und erforderliche Reparaturen zu veranlassen.

2) Nach dem Ableben von Herrn L. geht das gesamte Objekt an Fr. T. Ö., geb. am 03.03.1976 [= Beteiligte zu 3.] über.

3) Eventuell noch vorhandenes Bar- oder Anlagevermögen sollen für meine Beerdigung und die Grabpflege der Gruft und des Einzelgrabes meiner Mutter eingesetzt werden.

4) Meinen Schmuck soll meine Schwägerin E. B. erhalten. Hier hat jedoch Herr L. das Recht des Einbehaltes.“

Am 04.06.2015 verstarb ein ehemaliger Kriegskamerad des Vaters der Erblasserin, der die Erblasserin durch Testament zu seiner Alleinerbin eingesetzt hatte. Der Wert des der Erblasserin angefallenen Nachlasseses ist bislang nicht bekannt. Der Beteiligte zu 1 schätzt ihn unter Berufung auf Angaben, die der Beteiligte zu 2 ihm gegenüber gemacht habe, auf ca. 400.000 EUR.

Der Beteiligte zu 1 ist der Bruder der Erblasserin; die Beteiligte zu 4 ist dessen Ehefrau.

Der Beteiligte zu 1 hat nach dem Tod der Erblasserin einen ihn als Alleinerben ausweisenden Erbschein beantragt. Er hat die Auffassung vertreten, es sei die gesetzliche Erbfolge eingetreten; die Verfügungen im Testament seien lediglich als Vermächtnisse anzusehen.

Die Beteiligte zu 3 ist dem entgegen getreten und hat die Erteilung eines Erbscheins beantragt, der sie als Alleinerbin ausweist. Sie ist der Ansicht, die Erblasserin habe sie zur Alleinerbin eingesetzt, indem sie ihr den wesentlichen und wertvollsten Vermögensgegenstand des Nachlasses, nämlich den Haus- und Grundbesitz, zugewendet habe. Diese Erbeinsetzung werde durch eine nachträgliche Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in Frage gestellt, da der Wille der Erblasserin im Zeitpunkt der Testamentserrichtung entscheidend sei.

Das Nachlassgericht hat die zur Begründung des Antrags der Beteiligten zu 3 erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet und den Erbscheinsantrag des Beteiligten zu 1 zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht hat diese Entscheidung dahin abgeändert, dass es auch den Antrag der Beteiligten zu 3 zurückgewiesen hat (BeckRS 2016, 18624 mit Anm. Litzenburger, FD-ErbR 2016, 382721). Hiergegen richten sich die vom Oberlandesgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 3 und die Anschlussrechtsbeschwerde des Beteiligten zu 1, mit denen beide Beteiligten ihre Erbscheinsanträge weiterverfolgen.

Rechtliche Wertung

Der Senat hebt die Entscheidung des OLG Düsseldorf auf, weil dieses versäumt habe im Rahmen der ergänzenden Auslegung des Testaments der Frage nachzugehen, ob dieses überhaupt eine ungewollte Regelungslücke aufweise.

Eine solche Regelungslücke liege – so der Senat - vor, wenn ein bestimmter, tatsächlich eingetretener Fall vom Erblasser nicht bedacht und deshalb nicht geregelt worden sei, aber geregelt worden wäre, wenn der Erblasser ihn bedacht hätte (BGH, NJW 1963, 1610, 1611). Das könne auch ein unerwarteter Vermögenserwerb des Erblassers sein (vgl. BayObLG, FHZivR 36 Nr. 3624; OLG München, BeckRS 2011, 07416). Dabei komme es nicht  schematisch auf den Wortlaut der letztwilligen Verfügung an, sondern vielmehr auf eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände zur Zeit der Testamentserrichtung (MüKoBGB/Leipold, 7. Aufl., § 2084 BGB, Rn. 84).

Der Senat vermisst tragfähige Feststellungen zu einer ungewollten Regelungslücke. Allein der Umstand, dass die Erblasserin durch Zuwendung einzelner Gegenstände über ihr gesamtes Vermögen zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung verfügt habe, dabei aber keine gesonderte Anordnung hinsichtlich der späteren Erbschaft nach dem Kriegskameraden ihres Vaters getroffen habe, mache ihr Testament nicht ohne weiteres lückenhaft. Vielmehr sei dann, wenn der Erblasser durch Zuwendung einer Sachgesamtheit den Nachlass erschöpfen und gleichzeitig einen Bedachten zum Alleinerben einsetzen wollte, im Einzelfall zu prüfen, ob die durch Auslegung ermittelte Erbeinsetzung nach dem Regelungsplan des Erblassers auch einen nachfolgenden, unvorhergesehenen Vermögenserwerb erfassen solle.

Diese Prüfung sei von der Frage zu trennen, ob sich durch den späteren Vermögenszufluss an der Erbeinsetzung selbst etwas ändere. Dies habe der Senat in seinem vom Beschwerdegericht zitierten Urteil vom 22.03.1972 (BGH, FamRZ 1972, 561) abgelehnt, weil nur der bei Testamentserrichtung vorhanden gewesene Wille des Erblassers maßgebend sei (BGH, NJW 1997, 392 unter 2 b; a.A. Otte, ZEV 2017, 146). Auch in solchen Konstellationen sei im jeweiligen Einzelfall zunächst zu klären, ob sich die kraft Auslegung ermittelten letztwilligen Verfügungen des Erblassers angesichts der damit verfolgten Ziele als lückenhaft erweisen (vgl. Leipold, a.a.O.; Kanzleiter, MittBayNot 2011, 508, 509).

Der Senat könne dies nicht selbst entscheiden, weil sich aus den tatsächlichen Feststellungen der angefochtenen Entscheidung nicht entnehmen lasse, welchen Regelungsplan die Erblasserin mit ihrem Testament verfolgt habe. Zwar führe das Beschwerdegericht aus, die Erblasserin habe der Beteiligten zu 3 ausschließlich ihr Hausgrundstück zuwenden wollen, was für das Vorliegen einer Regelungslücke spräche. Dem widerspreche aber die Annahme des Beschwerdegerichts, dass „ursprünglich“ von der Einsetzung der Beteiligten zu 3 zur Alleinerbin auszugehen gewesen sei. Entsprechendes gelte für die Aussage des Beschwerdegerichts, es fehle an Anhaltspunkten dafür, dass die Erblasserin der Beteiligten zu 3 eine Erbenstellung habe zukommen lassen wollen; das stehe nicht im Einklang mit der Feststellung, dass die Beteiligte zu 3 nach dem Willen der Erblasserin das Eigentum an dem Hausgrundstück als Erbin unmittelbar habe erhalten sollen.

Auch wenn man mit dem Beschwerdegericht eine entsprechende Regelungslücke unterstelle, stehe nicht fest, ob im Streitfall eine ergänzende Testamentsauslegung eröffnet wäre, weil dies weiter voraussetze, dass ein hypothetischer Wille der Erblasserin ermittelt werden könne, anhand dessen die vorhandene Lücke geschlossen werden könnte. Dabei handele es sich nicht um den mutmaßlichen wirklichen Willen der Erblasserin, sondern um den Willen, den sie vermutlich gehabt hätte, wenn sie die planwidrige Unvollkommenheit der letztwilligen Verfügung im Zeitpunkt ihrer Errichtung erkannt hätte. Dazu müsse ein den Verhältnissen entsprechender Erblasserwille auf eine bestimmte, durch Auslegung der letztwilligen Verfügung erkennbare Willensrichtung des Erblassers zurückgeführt werden können (BGH, NJW 1957, 421, 422) Lasse sich ein solcher Wille nicht feststellen, so müsse es trotz der vorhandenen Regelungslücke bei dem bisherigen Auslegungsergebnis verbleiben (vgl. OLG Hamm, BeckRS 9998, 01401; wohl a.A. Otte, ZEV 2017, 146, 147).

Das Beschwerdegericht habe ausschließlich auf den von ihm angenommenen tatsächlichen Willen der Erblasserin abgestellt, nach dem die Beteiligte zu 3 nur das Hausgrundstück habe erhalten sollen. Im Übrigen habe es sich darauf beschränkt, das Fehlen von Anhaltspunkten festzustellen, die für eine Erbenstellung der Beteiligten zu 3 und gegen einen letztwilligen Ausschluss der gesetzlichen Erbfolge sprächen. Die fehlende Feststellung könne der Senat nicht nachholen. Sollte dem Beschwerdegericht eine solche auch nach Zurückverweisung nicht möglich sein, bleibt es nach Auffassung des Senats bei der Erbeinsetzung, wie sie sich nach Auslegung des Testaments vom 03.09.2007 ergibt.

Nach Auffassung des Senats begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass das Beschwerdegericht die Zuwendung des wertmäßigen Hauptnachlassgegenstands, etwa eines Hausgrundstücks, als Erbeinsetzung des Bedachten angesehen hat, weil der Nachlass dadurch im Wesentlichen erschöpft  wurde bzw. der objektive Wert das übrige Vermögen an Wert so erheblich übertroffen habe, dass der Erblasser ihn als seinen wesentlichen Nachlass angesehen habe. Unter diesen Voraussetzungen bilde das Vorliegen einer Erbeinsetzung die Regel, weil ansonsten im Falle des Fehlens weiterer Indizien die gesetzliche Zweifelsregelung eingriffe und zu dem vom Erblasser mutmaßlich nicht gewollten Ergebnis führte, dass es an einer Berufung von Erben durch letztwillige Verfügung überhaupt mangele (BGH, DNotZ 1972, 500).

Das Beschwerdegericht habe aber rechtsfehlerhaft nicht geprüft, ob im Streitfall ausnahmsweise eine von den vorstehenden Grundsätzen abweichende Testamentsauslegung geboten sei. Dabei komme es wesentlich darauf an, wer nach dem Willen des Erblassers den Nachlass regeln und die Nachlassschulden zu tilgen habe und ob der Bedachte unmittelbare Rechte am Nachlass oder nur Ansprüche gegen andere Bedachte erwerben solle.

Das Beschwerdegericht habe im Rahmen seiner Auslegung auch dem Umstand nur unzureichend Beachtung geschenkt, dass der fragliche Grundbesitz zunächst dem Beteiligten zu 2 bis an sein Lebensende zur Verfügung stehen und dann erst auf die Beteiligte zu 3 übergehen sollte. Die insofern vorgenommene Auslegung als Vermächtnis eines Wohnrechts zugunsten des Beteiligten zu 2 sei zwar denkbar, aber die ebenfalls in Betracht kommende Auslegungsmöglichkeit einer Einsetzung des Beteiligten zu 2 als Vorerben und der Beteiligten zu 3 als Nacherbin habe das Beschwerdegericht übersehen.

Praxishinweis

Mit dieser interessanten Entscheidung bekräftigt der Senat seine bereits früher getroffene Grundsatzentscheidung, dass im Falle der Erbeinsetzung durch Zuwendung von den Nachlass im wesentlichen erschöpfenden Vermögensgegenständen auf den Erblasserwillen zur Zeit der Testamentserrichtung abzustellen ist (BGH, BeckRS 2016, 18927, Rn. 45; so auch BayObLG, BeckRS 2009, 12351; OLG Köln, BeckRS 1982, 31155231). In der Praxis wird erfahrungsgemäß häufig der Fehler gemacht, auf die Vermögenszusammensetzung zur Zeit der Erbfalls abzustellen, was zugegebenermaßen wesentlich einfacher ist als die Recherche, was bei Errichtung des Testaments vorhanden war. Doch unterliegt es keinen Zweifeln, dass die Testamentsauslegung auf den Zeitpunkt der Abfassung der letztwilligen Verfügung abstellen muss.

Insoweit stimmen Senat und Beschwerdegericht überein. Doch hat das OLG Düsseldorf aus Sicht des Senats allzu forsch die Frage in den Mittelpunkt gestellt, was die Erblasserin angeordnet hätte, wenn sie den späteren Vermögenserwerb vorausgeahnt hätte. Der Senat stellt mit dieser Entscheidung klar, dass die ergänzende Testamentsauslegung in zwei Stufen abläuft. Zunächst ist die Lückenhaftigkeit des geäußerten Erblasserwillens festzustellen, d.h. der Gesamtverfügungswille zu klären, um anschließend unter Einbeziehung auch äußerer Umstände zu ermitteln, was der Erblasser bestimmt hätte, wäre ihm die Lückenhaftigkeit bewusst gewesen.  

In vielen Entscheidungen der Nachlass- und Beschwerdegerichte werden beide Fragen oft nicht ausreichend getrennt, so auch hier. Der Senat moniert zu Recht, dass sich das OLG Düsseldorf nicht widerspruchsfrei dazu geäußert hat, ob die Erblasserin bei der Zuwendung des Hausgrundstücks nach seiner Überzeugung einen Gesamtverfügungswillen hatte oder nicht. Das OLG Düsseldorf hatte versäumt zu klären, wer nach dem Testament Erbe sein sollte, sondern ist gleich der Frage nachgegangen, ob der spätere Vermögenserwerb an der Alleinerbeinsetzung etwas geändert habe. Dieses Vorgehen hält der Senat mit guten Gründen für falsch.

Mit Recht weist der Senat auch darauf hin, dass das OLG Düsseldorf die Möglichkeit einer Vor- und Nacherbeinsetzung überhaupt nicht in Erwägung gezogen hat.

Jenseits der Kritik an der unzureichenden Auslegung des Testaments durch das Beschwerdegericht, stellt diese Entscheidung klar, dass der Hinzuerwerb von Vermögenswerten nach der Testamentserrichtung an der zur Überzeugung des Gerichts gegebenen Erbeinsetzung nur dann etwas ändert, wenn im Einzelfall im Wege ergänzender Auslegung festgestellt werden kann, dass der Regelungsplan des Erblassers den nachfolgenden, unvorhergesehenen Vermögenserwerb nicht erfassen sollte. Nach den allgemein anerkannten Regeln der ergänzenden Testamentsauslegung muss dieser Wille jedoch eine, wenn auch noch so unvollkommene Andeutung im Testament gefunden haben.

Diese Auslegung kann dazu führen, dass in Höhe des später erworbenen Vermögens eine Teilerbeinsetzung der gesetzlichen Erben gemäß § 2088 Abs. 1 BGB verfügt worden ist (MüKoBGB/Rudy, 6. Aufl. 2013, § 2088, Rn. 12; Staudinger/Otte, BGB, Neubearbeitung 2013, § 2087, Rn. 27). Im Anschluss an Otte (a.a.O.) ist im Rahmen der ergänzenden Auslegung zu differenzieren: Stand für den Erblasser die Person des Zuwendungsempfängers und dessen Begünstigung am Nachlass im Vordergrund, so ändert sich durch den weiteren Vermögenserwerb nichts (vgl. BGH, BeckRS 2016, 18927). Kam es ihm dagegen darauf an, dem Zuwendungsempfänger gerade den Vermögenswert zukommen zu lassen, so kann für das später hinzuerworbene Vermögen die Auslegungsregel des § 2088 Abs. 1 BGB zum Zuge kommen. Ist ein derartiger Erblasserwille nicht feststellbar, so greift zwar die Auslegungsregel des § 2087 Abs. 2 BGB ein, jedoch kann der spätere Vermögenserwerb einen Anfechtungsgrund als Motivirrtum gem. § 2078 Abs. 2 Alt. 1 BGB liefern.

Redaktion beck-aktuell, 30. August 2017.