BAG: Verkürzung vergütungspflichtiger Fahrtzeiten durch Betriebsvereinbarung kann gegen die Tarifsperre verstoßen

BetrVG §§ 77 III, 87 I

Sind Fahrtzeiten tariflich uneingeschränkt entgeltpflichtig, ist eine Betriebsvereinbarung unwirksam, die diese tarifliche Vergütungspflicht verkürzt.

BAG, Urteil vom 18.03.2020 - 5 AZR 36/19 (LAG Düsseldorf)

Anmerkung von
RA Dr. Katrin Haußmann, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 13/2020 vom 02.04.2020

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des wöchentlich erscheinenden Fachdienstes Arbeitsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Arbeitsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Arbeitsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

Sachverhalt

Der Kläger verlangte Vergütungen für An- und Abfahrtszeiten nach dem Tarifvertrag des Groß- und Außenhandels Niedersachsen. An dieses Tarifvertragswerk war die beklagte Arbeitgeberin aufgrund ihrer Mitgliedschaft im tarifschließenden Arbeitgeberverband gebunden. In einer Betriebsvereinbarung war geregelt, dass Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden nicht als Arbeitszeit zählten, soweit sie 20 Minuten nicht überschritten. Die Beklagte verzeichnete diese Zeiten der Betriebsvereinbarung entsprechend nicht im Arbeitszeitkonto des Klägers und zahlte dafür auch keine Vergütung. Zwischen den Parteien war streitig, ob diese Regelung betriebsverfassungsrechtlich zulässig war, ob sie mit dem geltenden Tarifvertragswerk zu vereinbaren wäre und ob das Arbeitsverhältnis betriebsvereinbarungsoffen gestaltet war.

AG und LAG hatten die Klage abgewiesen.

Entscheidung

Das BAG hielt die Revision des Klägers für zulässig und begründet. Das Gericht verwies die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück. Das LAG werde klären müssen, ob und inwieweit die umstrittenen Fahrzeiten die vertraglich geschuldete regelmäßige Arbeitszeit überschritten. Die Vergütung für An- und Abfahrten seien Tätigkeiten, die der Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflichten erbringe. Sie seien mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten. Diese tariflichen Vorgaben hätten von den Betriebsparteien nicht zu Lasten der Arbeitnehmer geändert werden dürfen. Der Tarifvertrag enthielt keine Öffnungsklausel zugunsten abweichender Betriebsvereinbarungen. Die Tarifsperre des § 77 III 1 BetrVG sei anzuwenden. Arbeitsentgelte würden üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt.

Auf die Betriebsvereinbarungsoffenheit des Arbeitsvertrags käme es hier gar nicht an, weil die Betriebsparteien die betriebsverfassungsrechtlichen Grenzen ihrer Regelungsbefugnis überschritten hätten.

Praxishinweis

Den Betriebsparteien ist die Gestaltung der Lage der Arbeitszeit überlassen. Hierzu gehört nach einer früheren Entscheidung des BAG auch eine Berechnungsvorschrift, die vereinfachend und pauschalierend wirkt (BAG, BeckRS 2007, 41326). Dort hatte der 1. Senat eine Betriebsvereinbarung über die Anerkennung bestimmter Fahrtzeiten eines Außendienstmitarbeiters als Arbeitszeit zu prüfen. Im Ergebnis wurde die dortige Regelung weder als Vergütungsregelung noch als Regelung über die Dauer der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit eingeordnet. Aus diesen Gründen sah das BAG dort keine Sperre für Betriebsvereinbarungen durch tarifliche Regelungen i.S.v. § 77 III BetrVG. Eine Vergütungsregelung liege vor, wenn der Umfang der Gegenleistung des Arbeitgebers für die Arbeitsleistung geregelt werde. Diese könne auch darin liegen, dass Arbeitszeiten mit einem anderen Faktor als 1 bewertet würden. Eine solche Bewertung läge aber nicht vor, wenn die vorgelagerte Frage beantwortet werde, welche Leistungen des Arbeitnehmers als Arbeitsleistung anzusehen wären.

Soweit Tarifverträge mit ihren Regeln zur Vergütung von Fahrtzeiten Raum für betriebliche Regelungen zur Erfassung und Berechnung von Fahrtzeiten lassen, ändert daran die mit der Pressemitteilung des Gerichts (FD-ArbR 2020, 427918) veröffentlichte Aussage zur Vergütung von Fahrtzeiten nichts. Es bleibt abzuwarten, in welches Verhältnis der Senat die vorliegende Entscheidung zum Beschluss vom 10.10.2006 setzt.

Der Pressemitteilung ist zu entnehmen, dass der soeben entschiedene Fall anders zu beurteilen war, weil der Tarifvertrag eine abschließende Regelung zur Vergütung auch in Bezug auf Fahrtzeiten der Außendienstmitarbeiter enthielt. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Entscheidung zu Wegezeiten beachtlich (BAG, ArbRAktuell 2020, 122). Dort hatte der 1. Senat klargestellt, dass selbstbestimmte Wegezeiten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle keine Arbeitszeiten im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne sind und darauf bezogen kein Mitbestimmungsrecht besteht, sodass auch eine Pauschalierung nicht in die Regelungskompetenz der Betriebsparteien fällt.

Redaktion beck-aktuell, 3. April 2020.