BAG: Ordentliche Kündigung außerhalb des Geltungsbereichs des KSchG

KSchG §§ 1, 23 I; BGB §§ 138 I, 242

1. Der durch die zivilrechtlichen Generalklauseln nach §§ 138, 242 BGB vermittelte verfassungsrechtliche Schutz ist umso schwächer, je stärker die mit der Kleinbetriebsklausel des § 23 I KSchG geschützten Grundrechtspositionen des Arbeitgebers im Einzelfall betroffen sind. Es geht vor allem darum, Arbeitnehmer vor willkürlichen oder auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigungen zu schützen.

2. Eine ordentliche Kündigung ist nicht sitten- oder treuwidrig, weil dem Arbeitnehmer keine Gelegenheit zur Stellungnahme zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen gegeben wurde. Anders ist es bei einer Verdachtskündigung.

BAG, Urteil vom 05.12.2019 - 2 AZR 107/19 (LAG Berlin-Brandenburg), BeckRS 2019, 35044

Anmerkung von
RA Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 07/2020 vom 20.02.2020

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Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung. Die Klägerin war bei der Beklagten, die nicht mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt, seit dem 1.6.2016 als Nanny tätig. Das Arbeitsverhältnis war bis zum 31.5.2017 befristet und ordentlich kündbar. Neben der Klägerin war bei der Beklagten eine zweite Kinderfrau angestellt. Diese kündigte ihr Arbeitsverhältnis zum 31.1.2017. Die Beklagte beabsichtigte, als Ersatz die Zeugin B einzustellen. Frau B war in der 2. Hälfte des Monats Januar 2017 zusammen mit der Klägerin in der Wohnung der Beklagten tätig.

Mit Schreiben vom 2.2.2017, das der Klägerin spätestens am 14.2.2017 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich zum 15.3.2017. Dagegen hat die Klägerin rechtzeitig die Klage erhoben, der hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung rechtskräftig stattgegeben wurde. Die noch streitbefangene ordentliche Kündigung hat die Klägerin für sitten- und treuwidrig gehalten. Zu den Kündigungen sei es gekommen, weil die Zeugnis B der Beklagten wahrheitswidrig mitgeteilt habe, dass die Klägerin behauptet habe, die Beklagte sei nie zuhause, schließe sich immer in ihrem Zimmer ein und esse, wenn sie einmal daheim sei, nur Schokolade mit ihrer Tochter. Die Beklagte habe sich deshalb von der Klägerin in ihrer Mutterrolle kritisiert und in ihrer Eitelkeit verletzt gefühlt, obwohl sie gewusst habe, dass diese Behauptungen im Kern wahr und deshalb von der Meinungsfreiheit gedeckt seien. Die Beklagte habe sich aus Rachsucht und um Mittel für eine Anstellung für Frau B freizumachen nicht mit einer ordentlichen Kündigung begnügen, sondern sich fristlos von der Klägerin trennen wollen. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Frau B habe in der 3. Kalenderwoche 2017 mehrfaches, erhebliches Fehlverhalten der Klägerin festgestellt. Ende Januar 2017 habe sich Frau B ein Herz gefasst und die Beklagte nicht nur über zahlreiche Indiskretionen, sondern auch über Missstände in Kenntnis gesetzt, die eine Gefahr für das Wohl des betreuten Kindes seien. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.

Entscheidung

Die zugelassene Revision blieb ohne Erfolg. Ein Rechtsgeschäft sei sittenwidrig i.S.v. § 138 I BGB, wenn es dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspreche. Hierfür genüge nicht die bloße Verletzung vertraglicher Pflichten. Vielmehr müsse eine besondere Verwerflichkeit des Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln oder der zutage tretenden Gesinnung ergeben könne. Eine Kündigung verstoße deshalb nur dann gegen § 242 BGB, wenn sie Treu und Glauben aus Gründen verletze, die von § 1 KSchG nicht erfasst wären. Im Rahmen der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB sei der objektive Gehalt der Grundrechte zu berücksichtigen. Der durch die zivilrechtlichen Generalklauseln vermittelte verfassungsrechtliche Schutz sei allerdings umso schwächer, je stärker die mit der Kleinbetriebsklausel des § 23 I KSchG geschützten Grundrechtspositionen des Arbeitgebers im Einzelfall betroffen seien. Es gehe darum, Arbeitnehmer vor willkürlichen oder auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigungen zu schützen. Daran gemessen stelle sich die ordentliche Kündigung weder als sitten- noch als treuwidrig dar.

Praxishinweis

Die Entscheidung verdient Zustimmung. Wenn ein Arbeitnehmer negative Tatsachen über seinen Arbeitgeber verbreitet, ist es nachvollziehbar, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis nicht fortsetzen möchte. Eine allgemeine Pflicht zur Aufklärung des „wahren Sachverhalts“ gibt es nicht. Richtig ist auch der Hinweis, dass ein erst später gefasster Vorsatz, sich im Rahmen eines zwischenzeitlich anhängigen Rechtsstreits unter Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht aus § 138 I ZPO zu verteidigen, eine Kündigung nicht rückwirkend nichtig machen kann. Eine solche Verteidigung kann sich allenfalls als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung i.S.v. § 826 BGB darstellen.

Redaktion beck-aktuell, 20. Februar 2020.