BAG: Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Massenentlassungsanzeige

KSchG § 17

Das BAG hat den EuGH um Beantwortung u.a. der Frage gebeten, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Leiharbeitnehmer unter Berücksichtigung von Art. 1 I (1a) RL 98/59/EG bei der Bestimmung der Zahl der in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer i.S.d. § 17 I KSchG zu berücksichtigen sind.

BAG, Beschluss vom 16.11.2017 - 2 AZR 90/17 (A) (LAG Düsseldorf)

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Jens Günther, Gleiss Lutz, München

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 47/2017 vom 30.11.2017

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Arbeitsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Arbeitsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Arbeitsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

Die Beklagte betreibt Bildungseinrichtungen. Sie beschäftigte regelmäßig weniger als 120 bei ihr angestellte Arbeitnehmer; diese Zahl wurde durch zusätzlich eingesetzte Leiharbeitnehmer überschritten. Innerhalb von 30 Tagen wurden die Arbeitsverhältnisse von mindestens 12 Arbeitnehmern gekündigt. Die Beklagte hat keine Massenentlassungsanzeige erstattet. Mit ihrer Kündigungsschutzklage hat die Klägerin geltend gemacht, es habe sich um eine anzeigepflichtige Massenentlassung gehandelt. Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte mehr als 10 % der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer entlassen hat, so dass der Schwellenwert aus § 17 I 1 Nr. 2 KSchG überschritten wurde. Die Beklagte meint, dies sei nicht der Fall, da die bei ihr eingesetzten Leiharbeitnehmer bei der Berechnung der Arbeitnehmerzahl zu berücksichtigen seien. Das ArbG hat die Kündigungsschutzklage der Klägerin abgewiesen, das LAG hat ihr stattgegeben.

Entscheidung

Das BAG hat dem EuGH u.a. die Fragen vorgelegt,

(1) ob Art 1 I (1a) RL 98/59/EG dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung der Zahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer dort eingesetzte Leiharbeitnehmer mitzählen können und, wenn ja,

(2) welche Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Bestimmung der Anzahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer gelten. Es sei entscheidungserheblich, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Leiharbeitnehmer bei der Bestimmung der Zahl der in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer i.S.d. § 17 I 1 Nr. 2 KSchG zu berücksichtigen sind.

Praxishinweis

Das LAG Düsseldorf hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Nach Auffassung des LAG hätte die Beklagte eine Massenentlassungsanzeige erstatten müssen. Die Beklagte habe mind. 10 % der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlassen. Leiharbeitnehmer seien bei der Bestimmung der Betriebsgröße nicht zu berücksichtigen. Dies gebiete insbesondere nicht der Sinn und Zweck des § 17 KSchG. Denn § 17 KSchG verfolge in erster Linie arbeitsmarktpolitische Ziele und bezwecke den individualrechtlichen Schutz des Arbeitnehmers vor dem Ausspruch einer Kündigung sowie die Absicherung der Mitwirkung des Betriebsrats. Eine differenzierte Sichtweise, nach der Leiharbeitnehmer zwar bei der Größe des Betriebs, nicht aber bei der Anzahl der zu entlassenden Arbeitnehmer zu berücksichtigen seien, widerspreche dem Schutzzweck des § 17 KSchG. Denn je größer der Betrieb sei, umso mehr Arbeitnehmer müssen entlassen werden, damit die Pflichten des § 17 KSchG ausgelöst werden.

Dagegen vertritt ein Teil der Literatur gerade diese differenzierte Betrachtung und will Leiharbeitnehmer bei der Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer im Entleiherbetrieb mitzählen (ErfK/Kiel, § 17 KSchG, Rn. 11; APS/Moll, § 17, Rn. 18a). Dies steht im Einklang mit jüngerer Rechtsprechung des BAG, nach der für die Betriebsgröße nicht maßgeblich auf das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses, sondern auf die tatsächliche Beschäftigung abzustellen ist (BAG NZA 2013, 726). Eine differenzierte Beurteilung im Rahmen von § 17 I KSchG findet auch bei befristet Beschäftigten statt. Enden deren Arbeitsverhältnisse aufgrund der wirksamen Befristung und nicht zu einem früheren Zeitpunkt durch Kündigung oder Aufhebung, zählen befristet Beschäftigte bei den regelmäßig Beschäftigten, nicht aber bei der Zahl der Entlassungen mit (EuGH, NZA 2015, 1441).

Aus arbeitsmarktpolitischen Zwecken ist es dagegen nicht erforderlich, die Schwellenwerte des § 17 I KSchG bei dem regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer durch die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern zu erhöhen. Beratungsbedarf entsteht bei der Arbeitsagentur für die zu entlassenden Arbeitnehmer. Leiharbeitnehmer kehren zum Entleiher zurück. Wird hingegen eher der Charakter des § 17 KSchG als Norm der betrieblichen Mitwirkung betont, scheint es widersprüchlich, dass Leiharbeitnehmer relevant sein sollen für die Größe des Betriebsrats (BAG, NZA 2013, 789) und den Schwellenwert für einen Interessenausgleich (BAG, NZA 2012, 221), nicht aber bei Massenentlassungen, die ein Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat auslösen. Es kann also mit Spannung nach Luxemburg geschaut werden.

Die Anmerkung beruht auf der Pressemitteilung des Gerichts (FD-ArbR 2017, 396276).

Redaktion beck-aktuell, 4. Dezember 2017.