BAG: Betriebserwerber ist an eine mit dem Arbeitnehmer individualrechtlich vereinbarte kleine dynamische Bezugnahme auf einen Tarifvertrag gebunden

BGB § 613a I 1

Eine zwischen dem Betriebsveräußerer und dem Arbeitnehmer einzelvertraglich vereinbarte Klausel, die dynamisch auf einen Tarifvertrag verweist, verliert ihre Dynamik im Arbeitsverhältnis mit dem Betriebserwerber nicht allein aufgrund des Betriebsübergangs.

BAG, Urteil vom 30.08.2017 - 4 AZR 95/14 (LAG Hessen)

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Stefan Lingemann, Gleiss Lutz, Berlin

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 37/2017 vom 21.09.2017

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Sachverhalt

Die Klägerin ist seit 1986 als Stationshilfe in einem Krankenhaus beschäftigt. Im Arbeitsvertrag ist eine Verweisung auf den Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter/Arbeiterinnen gemeindlicher Verwaltung und Betriebe vom 31.1.1962 (BMT-G II) und die diesen ergänzenden, ändernden Tarifverträge vereinbart. Träger des Krankenhauses war ursprünglich ein Landkreis, der Mitglied im kommunalen Arbeitgeberverband (KAV) war. Das Krankenhaus wurde 1995 privatisiert und nunmehr von einer GmbH betrieben, die ebenfalls Mitglied im KAV war. Im Rahmen einer geplanten Ausgliederung schlossen die GmbH, deren Betriebsrat und die FM GmbH i. G. im Jahr 1997 einen Personalüberleitungstarifvertrag. Danach sollte der BMT-G II in der jeweils geltenden Fassung einschließlich der diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge für die Arbeitsverhältnisse weiterhin beim Betriebserwerber Anwendung finden. Ende Dezember ging der Betriebsteil, in dem die Klägerin beschäftigt war, auf die FM GmbH i. G. über. Die FM GmbH i. G. war nicht Mitglied im KAV. In der Folgezeit wurde auf das Arbeitsverhältnis weiterhin der BMT-G II angewandt. Die tariflichen Lohnerhöhungen wurden allerdings nicht weitergeben. Mit Wirkung zum 1.7.2008 ging das Arbeitsverhältnis auf die Beklagte über. Diese wandte auf das Arbeitsverhältnis ebenso die Vorschriften des BMT-G II an. Die Klägerin begehrt die Anwendung der TVöD-VKA und der TVÜ-VKA auf ihr Arbeitsverhältnis, da diese als den BMT-G II ersetzende Tarifverträge auf ihr Arbeitsverhältnis dynamisch anwendbar seien.

Die Vorinstanzen gaben der Klage statt. Auf Vorlage des BAG (BAG, BeckRS 2016, 66970) entschied der EuGH, dass die Richtlinie 2001/23/EG i.V.m. Art. 16 der EU-Grundrechtecharta der dynamischen Fortgeltung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Betriebserwerber nicht entgegen stehe, sofern das nationale Recht sowohl einvernehmliche als auch einseitige Anpassungsmöglichkeiten für den Erwerber vorsehe (EuGH, FD-ArbR 2017, 389303 m. Anm. Haußmann - „Asklepios Kliniken“).

Entscheidung

Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg. Die für  die Betriebsveräußerin und die Klägerin verbindliche dynamische Bezugnahmeklausel wirkt, so der 4. Senat,  auch im Arbeitsverhältnis der Prozessparteien weiterhin dynamisch.

Erforderliche Anpassungen der arbeitsvertraglichen Bedingungen könne der Betriebserwerber einvernehmlich durch einen Änderungsvertrag oder einseitig durch Änderungskündigung herbeiführen. Unter welchen Voraussetzungen eine Änderungskündigung zum Zwecke der “Entdynamisierung” einer Bezugnahmeklausel im Einzelfall sozial gerechtfertigt sei, bedürfe allerdings keiner Entscheidung, da die Beklagte keine Änderungskündigung ausgesprochen habe.

Praxishinweis

Nach der Rspr. des 4. Senats sind kleine dynamische Bezugnahmeklauseln nur noch in Arbeitsverträgen aus der Zeit vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes (1.1.2002) Gleichstellungsabreden: Der Betriebserwerber ist an die in Bezug genommenen Tarifverträge kollektivrechtlich gem. § 613 a I 2 BGB und damit auch individualvertraglich nur noch statisch gebunden. In Neuverträgen (ab 1.1.2002) führen solche Bezugnahmeklauseln hingegen zur dynamischen Fortgeltung der in Bezug genommenen Tarifverträge und damit einer „Ewigkeitsbindung“: Künftige Tarifentwicklungen muss der Erwerber weitergeben. Seit der „Alemo-Herron“-Entscheidung des EuGH (ArbRAktuell 2013, 350356 m. Anm. Haußmann war streitig, ob diese Dynamik auch dann greift, wenn der Erwerber an den Verhandlungen über die nach dem Übergang abgeschlossenen Tarifverträge nicht teilnehmen kann. Aufgrund der o.g. Entscheidungen des EuGH vom 27.04.2017 kommt es für die dynamische Fortgeltung jedoch auf die Änderungsmöglichkeiten des Betriebserwerbers nach nationalem Recht an. Wie schon im Vorlagebeschluss sieht der Senat eine solche Änderungsmöglichkeit auch in der Änderungskündigung. Sofern hier allerdings dieselben strengen Anforderungen wie bei einer Änderungskündigung zur Entgeltabsenkung gelten, hätte die Ewigkeitsbindung jetzt auch Ewigkeitsgeltung.

Die Anmerkung beruht auf der Pressemitteilung des Gerichts (FD-ArbR 2017, 394235).

Redaktion beck-aktuell, 22. September 2017.