Prozessauftakt: Völkermord-Klage gegen Israel vor dem IGH
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Ab heute verhandelt das UN-Gericht darüber, ob Israel in Gaza einen Genozid verübt. Ministerpräsident Netanjahu weist alle Vorwürfe zurück - und bekommt teilweise Unterstützung aus Deutschland. Es geht insbesondere um die Frage, ob Israel eine Absicht zum Völkermord nachgewiesen werden kann.

Südafrika, das von Richter Dikgang Ernest Moseneke (76), einem ehemaligen Richter am Obersten Gerichtshof des Landes vertreten wird, wirft Israel wegen des militärischen Vorgehens im Gaza-Streifen Völkermord vor. Israel töte Palästinenser, "füge ihnen schweren geistigen und körperlichen Schaden zu und schaffe Lebensumstände, die auf ihre physische Zerstörung zielen", beschreibt das Land in der 84 Seiten langen Klageschrift. Südafrika nennt die hohe Zahl von mehr als 21.000 Todesopfern im Gazastreifen, israelische Bombenangriffe, erzwungene Flucht, Angriffe auf Krankenhäuser und Geburtskliniken sowie die Blockade des Gebiets, die zu einem Mangel an Nahrungsmitteln und Trinkwasser geführt hat.

Das Land zitiert UN-Experten, Zeugen und Hilfsorganisationen. Inzwischen ist die Opferzahl nach Angaben der Behörden, die von der islamistischen Hamas kontrolliert werden, bereits auf mehr als 23.000 angestiegen, Zehntausende wurden demnach verletzt. Auch werden Äußerungen israelischer Minister als Beleg für die Absicht des Völkermords angeführt. Südafrika spricht von "direkter und öffentlicher Anstiftung zum Völkermord".

Zitiert werden auch Drohungen, Gaza unbewohnbar zu machen, sowie Forderungen von rechtsextremen Ministern, Palästinenser dauerhaft zu vertreiben. Unter dem Eindruck des Massakers vom 7. Oktober, bei dem Terroristen der islamistischen Hamas und anderer Gruppierungen in Israel mehr als 1.200 Menschen getötet und rund 250 verschleppten, hatte Verteidigungsminister Joav Galant etwa von "menschlichen Tieren" gesprochen und erklärt: "Wir werden alles auslöschen."

Südafrika beruft sich auf die UN-Völkermordkonvention. Beide Staaten haben diese Konvention unterzeichnet und sich damit nicht nur verpflichtet, keinen Völkermord zu begehen, sondern auch diesen zu verhindern und zu bestrafen. In der Konvention wird Völkermord definiert als eine Handlung, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".

Israel, vertreten durch den früheren Richter am Obersten Gerichtshof, Aharon Barak (87), einen Überlebenden des Holocausts, weist die Vorwürfe entschieden zurück und beruft sich auf das Recht zur Selbstverteidigung nach den Angriffen vom 7. Oktober. "Die Vergewaltigungsmaschine der Hamas trägt volle moralische Verantwortung für alle Opfer in diesem Krieg." Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat bekräftigt, Israel habe keine Absicht, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen oder die Zivilbevölkerung zu vertreiben.

"Israel kämpft gegen Hamas-Terroristen, nicht die palästinensische Bevölkerung, und wir tun dies in voller Übereinstimmung mit internationalem Recht", sagte Netanjahu am Mittwoch. "Die israelische Armee unternimmt alles in ihrer Macht Stehende, um Schaden an Zivilisten zu minimieren, während die Hamas alles in ihrer Macht Stehende tut, um ihn zu maximieren, indem sie palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt."

Baerbock und Habeck: Absicht ist entscheidende Frage bei Genozid-Vorwurf

Einen Tag vor der Anhörung des Internationalen Gerichtshofs zu Genozid-Vorwürfen gegen Israel im Gaza-Krieg hat sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hinter den Verbündeten gestellt. Sie sehe in Israels militärischem Vorgehen im Gazastreifen keine Absicht zum Völkermord, sagte die Grünen-Politikerin bei einem Besuch in Israels Nachbarland Libanon. Es sei Fakt, dass Völkermord per Definition die Absicht voraussetze, Angehörige einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten. "Diese Absicht kann ich bei Israels Selbstverteidigung gegen eine bewaffnete Terrororganisation der Hamas nicht erkennen", sagte Baerbock.

Auch Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) kann den Völkermord-Vorwurf Südafrikas gegen Israel wegen seines Vorgehens im Gaza-Krieg nicht nachvollziehen. Er habe jede Empathie mit Menschen, die im Gaza-Streifen litten und "durch diese fürchterliche Auseinandersetzung" Familien und Kinder verlören, sagte der Wirtschaftsminister am Donnerstag bei einem Besuch der israelischen Stadt Sderot. Diese liegt nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt und gehört zu den Orten, die am 7. Oktober von extremistischen Palästinensern angegriffen wurden.

Israel wisse, dass es so nicht weitergehen könne, sagte Habeck mit Blick auf das Vorgehen der Streitkräfte. "Aber Völkermord ist etwas anderes, es ist das gezielte Auslöschenwollen von Ethnien oder religiösen Gemeinschaften, das gezielte Auslöschen." Zwar nehme die israelische Armee in Kauf, dass Menschen stürben. Aber die Streitkräfte zielten nicht auf Zivilisten und führen nicht nach Gaza, um Kinder zu ermorden oder Frauen zu vergewaltigen und dann zu ermorden. Es gebe einen Unterschied: "Die Hamas ist hier durch die Straßen gefahren mit dem einzigen Ziel, so viele Menschen wie möglich abzuschlachten, und zwar blindwütig alle, die sie sehen."

Die Frage des Völkermords wird aber jetzt noch nicht sofort verhandelt. Zunächst müssen die Richter über einen Eilantrag Südafrikas entscheiden, das die sofortige Einstellung des Militäreinsatzes im Gazastreifen fordert. Am Donnerstag hat zunächst Südafrika das Wort. Am Freitag wird Israel auf die Klage reagieren. Ein Urteil zum Eilantrag wird in einigen Wochen erwartet. Ein Hauptverfahren zum Völkermord-Vorwurf kann sich über Jahre hinziehen. 

Redaktion beck-aktuell, ak, 11. Januar 2024 (dpa).