Die Gemeinschaftsschule, zu der die Streife beordert wurde, lag circa 65 km entfernt von der Albertville-Realschule in Winnenden, wo 2009 bei einem Amoklauf 10 Menschen getötet wurden. Die beiden Streifenpolizisten, der Beifahrer noch in Ausbildung, legten schusssichere Westen an und fuhren los. Nachdem der Einsatzwagen bereits mehrere Kreuzungen passiert hatte, fuhr er mit Blaulicht und Sirene bei "Rot" in eine weitere Kreuzung ein und kollidierte mit einem Pkw des Querverkehrs – beide Fahrzeuge erlitten einen Totalschaden. Das Land warf dem Fahrer des Einsatzwagens grobe Fahrlässigkeit vor und forderte von ihm Ersatz des Fahrzeugschadens, knapp 20.000 Euro. Nach erfolglosem Widerspruch focht der Polizeibeamte den Bescheid beim Verwaltungsgericht an - mit Erfolg.
Keine grobe Fahrlässigkeit wegen "Augenblicksversagen"
Das VG Stuttgart sah keine grobe Fahrlässigkeit gegeben und verneinte daher einen Schadensersatzanspruch des Landes aus § 48 BeamtStG (Urteil vom 25.05.2023 - 11 K 942/22). Zwar hätte der Polizeibeamte trotz Sonder- und Wegevorrecht (§ 35 Abs. 1, 38 Abs. 1 StVO), die er bei der Einsatzfahrt nutzen durfte, nicht einfach bei Rot in die Kreuzung einfahren dürfen, sondern hätte sich zunächst davon überzeugen müssen, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer ihn wahrgenommen und sich auf seine Absicht, die Kreuzung vor ihnen zu überqueren, eingestellt haben.
Das VG bejaht allerdings ein "Augenblicksversagen", das den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entfallen lasse. "Einmalige und nicht länger andauernde Umstände" lägen vor, da der Polizeibeamte vor dem Unfall vier Ampelkreuzungen ordnungsgemäß überquert habe. Das VG sieht auch die weitere Voraussetzung erfüllt, das "weitere, in der Person des Handelnden liegende besondere Umstände hinzukommen [müssen], die den Grund des momentanen Versagens erkennen und in einem milderen Licht erscheinen lassen". Eine Einsatzfahrt mit Blaulicht und Sirene genüge für sich zwar nicht dafür. Aus den speziellen Einsatzumstände könnten sich aber solche besonderen Umstände ergeben.
Besondere Stresssituation – Amoklauf in Winnenden präsent
So liege es hier: "Von allen denkbaren polizeilichen Rettungseinsätzen dürfte ein sogenannter Amok-Alarm in einer zur Tageszeit geöffneten Schule, zu den anspruchsvollsten Einsätzen zählen, die der Kammer vorstellbar sind", schreibt das Gericht in sein Urteil. Es betont die besondere Stresssituation, die der Amok-Alarm bei dem Streifenbeamten ausgelöst habe. Denn der Amoklauf in Winnenden 2009 sei allen Menschen in der Region präsent. Dass dem Polizeibeamten ein solches Szenario durch den Kopf gegangen sei, zeige sich daran, dass er und sein Kollege schusssichere Westen anlegten. Außerdem sei letzterer noch in Ausbildung gewesen sei; auf die Unterstützung eines erfahrenen Kollegen habe er daher nicht rechnen können.
Unfälle mit Einsatzwagen der Polizei, Feuerwehr oder Rettung, die bei Einsatzfahrten bei Rot in Kreuzungen einfahren, beschäftigen die Gerichte häufiger. Erst kürzlich entschied das OLG Frankfurt am Main einen Fall, in dem ein Rettungswagen bei "Rot" eine Kreuzung überquerte und mit einem Pkw kollidierte. Hier betrug die Haftungsquote 50 zu 50.