Im Januar 2024 war die Republik in Aufruhr. Damals sorgte das berüchtigte "Potsdamer Treffen" für Aufsehen, bei dem AfD-Mitglieder mit unterschiedlichsten einflussreichen Personen zusammenkamen, unter ihnen auch der neurechte Vordenker Martin Sellner von der Identitären Bewegung, der dort über "Remigration" sprach. Die Ereignisse jener Tage sorgten für zahlreiche Großdemonstrationen in ganz Deutschland.
Malu Dreyer, damals noch amtierende Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, schaltete sich in die Debatte gleich mehrfach ein. Am 18. Januar 2024 nahm Dreyer mit weiteren Mitgliedern der Landesregierung in Mainz an einer Kundgebung unter dem Motto "Zeichen gegen Rechts – Kein Platz für Nazis" teil, zu der sie tags zuvor über ihren dienstlichen Instagram-Account "ministerpraesidentin.rlp" aufgerufen hatte. In dem Post sprach sie unter anderem direkt die AfD an: "Die Politik der AfD und ihrer rechtsextremen Netzwerke macht ganz vielen Menschen in Deutschland Angst. Das dulden wir nicht."
Zwei Tage zuvor hatte sie auf Instagram bereits eine Erklärung hochgeladen, in der sie die AfD für ihre Positionen zur Migration kritisierte und sie als "Fall für die Verfassungsschutz- und Strafverfolgungsbehörden" bezeichnete. Eine Pressemitteilung, in der die AfD kritisiert wurde, erschien zudem auf ihrer Homepage, ebenso wie eine weitere kritische Erklärung Dreyers sowie Schauspielers Matthias Brandt.
AfD scheitert vor VerfGH
Die AfD wollte diese Äußerungen nicht hinnehmen und ging im Wege eines Organstreitverfahrens vor dem VerfGH Rheinland-Pfalz dagegen vor. Die klagenden Partei-Verbände – Bund wie auch Land – sahen in Dreyers öffentlicher Kritik einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot für Staatsorgane. Der Gerichtshof wies die Klagen allerdings in der vergangenen Woche ab.
Das Neutralitätsgebot politischer Amtsträgerinnen und -träger wird aus der Chancengleichheit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG und dem Demokratieprinzip abgeleitet. Nach der Rechtsprechung des BVerfG dürfen Behörden und staatliche Funktionsträgerinnen und -träger nicht öffentlich Wahlempfehlungen aussprechen oder sich sonst parteipolitisch äußern. Denn wenn Einzelpersonen oder Institutionen ihre machtvolle Position – vor allem ihre öffentlichkeitswirksame Stimme, die Legitimität ihres Amtes und nicht zuletzt ihre finanziellen und personellen Ressourcen – nutzten, um für bestimmte Parteien zu werben oder sie abzuwerten, könnte das die Chancengleichheit der Parteien als Basis einer funktionierenden Demokratie in Mitleidenschaft ziehen.
Das BVerfG hat das Neutralitätsgebot in einer Reihe von Entscheidungen bestätigt, unter anderem gegen die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Diese hatte die Wahl des FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich zum neuen Ministerpräsidenten in Thüringen im Februar 2020, die mit Stimmen der AfD zustande gekommen war, als "unverzeihlich" kritisiert und öffentliche eine Korrektur gefordert.
Neutralitätsgebot ist nicht in Stein gemeißelt
Das Problem an Grundsätzen offenbart sich jedoch meist, wenn sie auf die Praxis treffen. Und so ist es auch bei der parteipolitischen Neutralität der Staatsorgane. Denn wann eine Bundeskanzlerin in ihrer Eigenschaft als solche spricht und wann sie dies als Privatperson oder gar wahlkämpfende CDU-Spitzenkandidatin tut, ist nicht immer leicht abzugrenzen. Schließlich ist Regierungsarbeit meist gerade nicht politisch neutral, sondern folgt einem in der Partei erarbeiteten Konzept. Im Zweifel hilft es, wenn die Person amtliche Ressourcen benutzt, wie etwa einen eigens dafür geführten Social-Media-Account.
Doch auch das BVerfG hat klargemacht, dass das Neutralitätsgebot nicht über allem steht. So ließ die Senatsmehrheit im Fall Merkel die Tür offen für Fälle, in denen "gleichwertige Verfassungsgüter" wie der "Schutz der Handlungsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung" oder "das Ansehen und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft" eine Abweichung rechtfertigten. Das Gericht sah die Bundesregierung gar in der Pflicht, sich Bedrohungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung proaktiv entgegenzustellen.
VerfGH: Sachliche Demokratie-Verteidigung erlaubt
Eben hierauf stützte sich der VerfGH Rheinland-Pfalz, der die Merkel-Entscheidung an mehreren Stellen zitiert. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung sei ein Verfassungsgut, das es im Zweifel erlaube, die parteipolitische Neutralität hintenanzustellen, meinten die Richterinnen und Richter. Im Rahmen ihres Schutzauftrages sei auch die Landesregierung befugt, "an der öffentlichen Auseinandersetzung darüber teilzunehmen, ob Ziele und Verhalten einer Partei oder deren Mitglieder als verfassungsfeindlich einzuordnen sind". Dazu gehöre auch, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und Empfehlungen oder Warnungen auszusprechen. Zudem verwies der Gerichtshof darauf, dass einer Landesregierung gar keine andere Möglichkeit bleibe, als öffentlich gegen die AfD einzutreten. Schließlich könne sie nach § 43 Abs. 2 BVerfGG keinen Parteiverbotsantrag gegen eine bundesweit agierende Partei wie die AfD stellen. Sie müsse sich zudem bei ihren Äußerungen zwar an das Sachlichkeitsgebot halten, dürfe aber auch in sozialen Medien zuspitzen.
Diese Voraussetzungen sah der Gerichtshof im Fall Dreyer gewahrt: "Die Wertung, die Verbindungen der AfD zu rechtsextremen Netzwerken und rechtsextremen Mitgliedern der Partei bedrohten mit rechtsextremen, toleranz- und freiheitsfeindlichen Positionen die Demokratie, entbehrt nicht einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage" heißt es im Urteil. Dazu bezog sich der Senat u. a. auf Verfassungsschutzberichte aus Rheinland-Pfalz und auf Bundesebene.
Dreyer selbst sah sich in ihrem "Kampf für unsere Demokratie und gegen Verfassungsfeinde" bestätigt und bekundete, mit der Entscheidung gebe es nun neue Leitlinien, an denen man sich in Zukunft orientieren könne. Der AfD-Landesvorsitzende in Rheinland-Pfalz, Jan Bollinger, sah in der Entscheidung hingegen einen gefährlichen Präzedenzfall. Sie öffne Tür und Tor für politisch motivierten Missbrauch.
Staatsrechtlerin: "Maßstäbe müssen enger gefasst werden"
Auch in der (Fach-)Öffentlichkeit sorgte das Urteil für viel Diskussionsstoff. Die Rechtsanwältin Jessica Hamed schrieb etwa auf LinkedIn, der VerfGH überspanne die Grenzen der wehrhaften Demokratie "in einer Weise, die geeignet ist, ihrerseits die Demokratie zu gefährden". Antje von Ungern-Sternberg, Staatsrechtslehrerin von der Universität Trier, hält die Entscheidung des VerfGH in einem Beitrag auf dem Verfassungsblog zwar vor dem Hintergrund der Judikatur aus Karlsruhe für folgerichtig, fragt aber nach den Grenzen staatlicher Eingriffe in die demokratische Willensbildung. Politische Gegner dürften nach der Rechtsprechung des VerfGH so lange als verfassungsfeindlich bezeichnet werden, wie dies nicht willkürlich und sachfremd sei. "Bedenkt man die Gefahr, dass eine Regierung versucht sein kann, politische Konkurrenten mit den ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Ressourcen öffentlich zu diskreditieren, so müssen bereits die Maßstäbe für eine Ausnahme vom Neutralitätsgebot enger gefasst werden" fordert Ungern-Sternberg.
Was Amtsträgerinnen und -träger öffentlich über die politische Konkurrenz äußern dürfen, ist durch die Entscheidung des VerfGH nicht wesentlich klarer geworden. Der Gerichtshof hält sie sich an die Rechtsprechung des BVerfG, "neue Leitlinien" sind kaum erkennbar. Ob Äußerungen wie die von Dreyer politisch überhaupt dazu geeignet sind, der AfD zu schaden, steht ohnehin auf einem anderen Blatt. In den Umfragen steht sie heute in Rheinland-Pfalz deutlich besser da als im Januar 2024, nunmehr nur knapp unter 20%.