Merkel-Äußerungen zu Kemmerich-Wahl waren verfassungswidrig
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Mit ihren Äußerungen zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen hat die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Recht der AfD auf Chancengleichheit der Parteien verletzt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Im Februar 2020 war Thomas Kemmerich (FDP) im dritten Wahlgang mit Hilfe der AfD zum Ministerpräsidenten des Freistaats gewählt worden. Merkel hatte dies als "unverzeihlich" bezeichnet und gefordert, dass "das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss".

Kanzlerin: "Schlechter Tag für die Demokratie"

Die damalige Bundeskanzlerin sagte am Tag nach der Wahl im Rahmen eines Staatsempfangs in Südafrika, dass die Ministerpräsidentenwahl mit einer "Grundüberzeugung" gebrochen habe, "für die CDU und auch für mich", wonach mit "der AfD" keine Mehrheiten gewonnen werden sollten. Der Vorgang sei "unverzeihlich", weshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden müsse. Es sei "ein schlechter Tag für die Demokratie" gewesen. Die Äußerung wurde auf der Internetseite der Bundeskanzlerin und auf der Internetseite der Bundesregierung veröffentlicht. Die Organklagen der AfD richteten sich gegen die Bundeskanzlerin und gegen die Bundesregierung. Nach Ansicht der Partei verstießen die Antragsgegnerinnen gegen die Neutralitätspflicht im politischen Meinungskampf und verletzten damit ihr Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG

BVerfG: Recht auf Chancengleichheit der Parteien verletzt

Die Organklagen hatten Erfolg. Merkel habe durch die Äußerung und deren anschließende Veröffentlichung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung die AfD in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Ebenso wie Minister und Ministerinnen müsse der/die Bundeskanzler/in den Grundsatz der Chancengleichheit und die sich daraus ergebenden Neutralitätspflichten beachten, wenn Äußerungen in amtlicher Funktion getätigt werden. Soweit seine/ihre Äußerungsbefugnisse gegenständlich weiterreichten als die des einzelnen, auf seinen jeweiligen Ressortbereich beschränkten Bundesministers und die Gesamtheit des Regierungshandelns umfassten, entbinde ihn/sie dies bei der Wahrnehmung seiner/ihrer Rechte nicht von dieser Pflicht.

Merkel äußerte sich in amtlicher Funktion

Merkel habe sich in amtlicher Funktion geäußert. Die Äußerung sei ausschließlich im amtsbezogenen Rahmen einer Regierungspressekonferenz zu Gesprächen gefallen, die Merkel als Bundeskanzlerin im Rahmen eines Staatsbesuchs in Südafrika geführt habe. Weder der Hinweis, die Vorbemerkung "aus innenpolitischen Gründen" zu machen, noch der Inhalt der Äußerung änderten etwas am amtlichen Charakter der Äußerung. Es habe an einem hinreichend klaren Hinweis Merkels gefehlt, dass sie sich nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde.

Einseitig auf Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt

Merkel habe in amtlicher Funktion die AfD negativ qualifiziert und damit einseitig auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt. Die Aussage, dass die Ministerpräsidentenwahl mit der "Grundüberzeugung" gebrochen habe, mit "der AfD" keine Mehrheiten zu bilden, klassifiziere die Antragstellerin insgesamt als eine Partei, mit der jedwede Zusammenarbeit von vornherein ausscheidet. Diese Bewertung werde dadurch verstärkt, dass Merkel den Vorgang als "unverzeihlich" bezeichnete und forderte, dessen Ergebnis rückgängig zu machen. Indem sie schließlich äußerte, die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen sei "ein schlechter Tag für die Demokratie" gewesen, habe sie deutlich gemacht, dass sie die Beteiligung der Antragstellerin an der Bildung parlamentarischer Mehrheiten generell als demokratieschädlich erachtet, und implizit ein insgesamt negatives Werturteil über die Koalitions- und Kooperationsfähigkeit der Antragstellerin im demokratischen Gemeinwesen gefällt.

Eingriff war nicht gerechtfertigt

Damit habe Merkel als Kanzlerin die durch das Neutralitätsgebot vorgegebenen inhaltlichen Grenzen ihrer Äußerungsbefugnisse überschritten und in das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG eingegriffen. Der Eingriff in das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG sei weder durch den Auftrag des Bundeskanzlers zur Wahrung der Stabilität der Bundesregierung sowie des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft gerechtfertigt gewesen, noch habe es sich um eine zulässige Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung gehandelt, so das BVerfG.

Recht auf Chancengleichheit der Parteien auch durch Veröffentlichung verletzt

Auch durch die Veröffentlichung der Äußerung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung wurde die AfD laut BVerfG in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien verletzt. Durch die Veröffentlichung hätten die Antragsgegnerinnen auf Ressourcen zurückgegriffen, die allein ihnen zur Verfügung gestanden hätten. Indem sie auf diese Weise das in der Äußerung enthaltene negative Werturteil über die Antragstellerin verbreitet hätten, hätten sie die Antragstellerin eigenständig in ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb verletzt.

Keine Pflicht zur authentischen Dokumentation von Regierungshandeln

Der Eingriff sei auch nicht gerechtfertigt wegen der Pflicht zur authentischen Dokumentation von Regierungshandeln. Diese erstrecke sich jedenfalls nicht auf Erklärungen, die in nicht gerechtfertigter Weise in das Recht auf politische Chancengleichheit einer politischen Partei aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG eingriffen. Die Veröffentlichung nehme auch nicht lediglich die Erfüllung einer nach dem Informationsfreiheitsgesetz beziehungsweise den Pressegesetzen bestehenden Informationspflicht in allgemeiner Weise vorweg. Es könne dahinstehen, ob eine solche Auskunftspflicht besteht. Jedenfalls entstünde sie erst mit Vorliegen eines entsprechenden Antrags und zudem nur in dem im Einzelfall begehrten Umfang, erläuterten die Richter.

Wallrabenstein mit Sondervotum

Die Entscheidung des BVerfG ist mit einem knappen Votum von fünf zu drei Stimmen ergangen. Nach einem Sondervotum der Richterin Astrid Wallrabenstein hat die ehemalige Bundeskanzlerin keinen Verfassungsverstoß begangen. Äußere sie sich zu politischen Fragen, unterliege der Aussageinhalt keiner Neutralitätskontrolle durch das BVerfG, so die Auffassung der Richterin.

BVerfG, Urteil vom 15.06.2022 - 2 BvE 4/20; 2 BvE 5/20

Esther Wiemann, 15. Juni 2022.