Streit um Haft von Abgeordnetem stürzt türkische Justiz in Krise

In der Türkei hat der Fall des inhaftierten Abgeordneten Can Atalay die Justiz in eine Krise gestürzt. Eines der obersten Gerichte entschied erneut, die vom Verfassungsgericht angeordnete Freilassung Atalays nicht durchzusetzen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu schrieb.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts von Ende Dezember habe "keinen rechtlichen Wert" und dürfe darum nicht umgesetzt werden, so der Kassationshof. Beobachter sehen in dem Zwist die Austragung eines Kampfes politischer Lager.

Atalay war im April 2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen Beihilfe zu einem Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 wurde er zum Abgeordneten gewählt und hätte seinem Anwalt zufolge deswegen freigelassen werden müssen. Sein Urteil war zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig. Der Kassationshof argumentiert hingegen, das Urteil sei mittlerweile rechtskräftig, weswegen Atalay in Haft bleiben müsse. Sein Mandat müsse ihm aberkannt werden.

Der Streit trägt sich in einem ohnehin angespannten politischen Kontext zu: Das Urteil gegen Atalay in dem sogenannten Gezi-Prozess gilt als politisch motiviert und wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als unrechtmäßig beschieden. Die Massenproteste, um die es unter anderem in dem Prozess ging, richteten sich auch konkret gegen den damaligen Ministerpräsidenten und jetzigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Auch die Krise zwischen den beiden türkischen Gerichten wird von vielen als ideologischer Kampf interpretiert. Das türkische Verfassungsgericht hatte im Oktober erstmals entschieden, Atalay müsse freigelassen werden. Der Kassationshof hatte dies ebenfalls abgewiesen und - begleitet von scharfer Kritik - Ermittlungen gegen einige der Verfassungsrichter veranlasst.

Redaktion beck-aktuell, ak, 4. Januar 2024 (dpa).