75 Jahre Grundgesetz: Steinmeier sieht "härtere Jahre"
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© dpa | Michael Kappeler

Zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Menschen in Deutschland auf schwierigere Zeiten eingestellt und zugleich ihren Willen zur Selbstbehauptung beschworen. Bei einem Staatsakt in Berlin rief er dazu auf, die Errungenschaften von Freiheit und Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen.

"Unsere Demokratie ist wehrhaft. Wer heute unsere liberale Demokratie bekämpft, muss wissen, dass er es dieses Mal mit einer kämpferischen Demokratie und mit kämpferischen Demokratinnen und Demokraten zu tun hat", sagte Steinmeier. Der Bundespräsident betonte: "Für mich steht fest: Wir leben in einer Zeit der Bewährung. Es kommen raue, auch härtere Jahre auf uns zu. Die Antwort darauf können und dürfen nicht Kleinmut oder Selbstzweifel sein." Falsch wäre es auch, von einer bequemeren Vergangenheit zu träumen oder täglich den Untergang des Landes zu beschwören. Dies lähme nur. "Wir müssen uns jetzt behaupten – mit Realismus, mit Ehrgeiz. Das ist die Aufgabe der Zeit. Selbstbehauptung ist die Aufgabe unserer Zeit!"

An dem Festakt im Freien zwischen Reichstag und Kanzleramt nahmen die Spitzen der fünf Verfassungsorgane teil. Neben dem Bundespräsidenten sind dies die Präsidentinnen und Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht – Bärbel Bas (SPD), Manuela Schwesig (SPD) und Stephan Harbarth – sowie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Unter den rund 1.100 Gästen waren auch die früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) sowie Altbundespräsident Joachim Gauck. Für die Sicherheit und Verkehrsführung sorgten rund 1.000 Polizistinnen und Polizisten.

Steinmeier würdigte das Grundgesetz als ein "großartiges Geschenk" für Deutschland nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, das im Alltag gepflegt, bewahrt und verteidigt werden müsse. "Ich bin überzeugt: Diese Verfassung gehört zu dem Besten, was Deutschland hervorgebracht hat." Inzwischen sei sie eine der ältesten Verfassungen weltweit und Vorbild für viele andere Verfassungen geworden. Die von den 61 Vätern und 4 Müttern des Grundgesetzes geschaffene Verfassung sei der "Aufbruch in eine hellere Zukunft" gewesen.

Das Grundgesetz garantiere Freiheit und erwarte Verantwortung. "Es schafft ein stabiles Gebäude, in dem die Menschen sich zunehmend zuhause und aufgehoben fühlen konnten, in dem die Gesellschaft sich entwickeln und erneuern konnte. Es ist das Modell für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft der Verschiedenen – geschichtsbewusst und zukunftsoffen." Voller Bewunderung und Dankbarkeit schaue man auf die Arbeit der Mütter und Väter des Grundgesetzes.

Grundgesetz am 23. Mai 1949 von Konrad Adenauer verkündet

Das Grundgesetz war entstanden, nachdem die Militärgouverneure der Westmächte am 1. Juli 1948 die elf Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder beauftragt hatten, eine "verfassungsgebende Versammlung" einzuberufen. Wichtige Vorarbeiten leistete im August 1948 der Verfassungskonvent auf der Insel Herrenchiemsee. Vom 1. September 1948 an erarbeitete der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz, das am 8. Mai 1949 verabschiedet und am 23. Mai vom Vorsitzenden des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, verkündet wurde.

Dem Parlamentarischen Rat gehörten 65 von den elf Landtagen gewählte Mitglieder an. Er bestand aus 61 Männern und 4 Frauen. Letztere setzten durch, dass in Artikel 3 die Norm "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" aufgenommen wurde –  was allerdings bis heute beispielsweise bei der Bezahlung im Beruf und bei der Besetzung von Spitzenpositionen längst nicht umgesetzt ist. Kern des Grundgesetzes ist sein Katalog an Grundrechten in den Artikeln 1 bis 19, dessen Leuchtturm gewissermaßen in Artikel 1 steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Das Grundgesetz wurde über die Jahre hinweg mehrfach geändert und erweitert. Aus ursprünglich 146 Artikeln wurden 203. Und es gibt weitere Vorstöße, einzelne Fragen verfassungsrechtlich abzusichern. So fordert die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Der Jahrestag sei ein Grund zum Feiern, "aber auch ein Grund daran zu erinnern, dass die Kinderrechte endlich den Verfassungsrang erhalten müssen, der ihnen zusteht", sagte Claus der Deutschen Presse-Agentur. "Die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz ist von großer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung."

Ostbeauftragter Schneider: Das Grundgesetz feiern

Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel rief zum Einsatz für Demokratie und zur Verteidigung des Grundgesetzes auf. "Wir müssen es schützen"», sagte die CDU-Politikerin am Donnerstag am Rande der Feierlichkeiten in Berlin dem ARD-"Bericht aus Berlin". Sie schaue fröhlich auf diesen Tag, aber auch entschieden, dafür zu kämpfen, dass künftige Generationen noch "das Glück des Grundgesetzes" haben. Als großes Problem bezeichnete Merkel Gewalt gegen Politiker, insbesondere in den Kommunen. Dort engagierten sich Menschen, die weniger Schutz als Spitzenpolitiker hätten. "Deshalb müssen wir gemeinsam wehrhaft sein", sagte die frühere Kanzlerin. Persönlich schaue sie "sehr glücklich auf diesen Tag", betonte Merkel. "Ich habe in meiner Kindheit nicht damit gerechnet, dass ich auch an diesem Grundgesetz mit beteiligt sein kann und es leben darf", fügte sie hinzu.

Bundesjustizminister Marco Buschmann wünschte sich bereits vor der Veranstaltung mehr Wertschätzung für Verfassung und Demokratie in Deutschland. "Es muss einem nicht alles gefallen, was in unserem Land geschieht", sagte der FDP-Politiker der "Rheinischen Post". "Aber unsere Verfassung als Rahmen der Politik hat für den freiheitlichsten und wohlhabendsten Staat gesorgt, den wir je hatten." Jenen, die die Demokratie infrage stellen, empfehle er einen Blick in die Welt: "In keinem autoritären Staat würden sie besser leben können."

Ähnlich äußerte sich der Ostbeauftragte Carsten Schneider. Die Verfassung regele das Miteinander in Deutschland durch Werte wie Menschlichkeit, Fairness, Vielfalt und Zusammenhalt. "Deshalb können wir es nicht genug feiern", sagte der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. Die Menschen in der DDR hätten sich diese Werte und Freiheiten in der friedlichen Revolution selbst erkämpft. "Deshalb gehören 35 Jahre Friedliche Revolution und 75 Jahre Grundgesetz, das die Deutsche Einheit zum Staatsziel hatte, untrennbar zusammen."

Nach dem Staatsakt werden auch die Bürgerinnen und Bürger Gelegenheit haben, ihre Verfassung zu feiern. Im Berliner Regierungsviertel wird es von Freitag bis Sonntag ein Demokratiefest geben, am Samstag auch im alten Bonner Regierungsviertel, wo Steinmeier seinen dortigen Amtssitz, die Villa Hammerschmidt, öffnet.

Redaktion beck-aktuell, ew, 23. Mai 2024 (dpa).