Migrationsrecht im Sicherheitspaket: Viele politische Nebelkerzen
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Die Bundesregierung plant als Reaktion auf das Solingen-Attentat zahlreiche Gesetzesverschärfungen, unter anderem im Migrationsrecht. Die geplanten Maßnahmen dürften aber wenig ändern und sind teils "klar europarechtswidrig", meint ein Experte.

Infolge des Attentats in Solingen, bei dem drei Menschen getötet und acht weitere verletzt wurden, erhöhte sich der Handlungsdruck auf die Bundesregierung, nicht zuletzt im Migrationsrecht. Das Thema schwebt ohnehin seit Langem über der politischen Diskussion in Deutschland: Zu wenig erfolgreiche Abschiebungen, immer neue Flüchtlingsströme, die in der EU nur unzureichend verteilt werden – all das wird seit Jahren beklagt und schafft es mit jeder Gewalttat einer geflüchteten Person neuerlich in die Schlagzeilen. Nun stehen zudem die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg vor der Tür. Überall könnten AfD und BSW starke Ergebnisse erzielen – nicht zuletzt, weil Migration bei ihnen weit oben auf der Agenda steht.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es nicht lange dauerte, bis die Ampel-Koalition ihr am Donnerstag offiziell vorgestelltes Sicherheitspaket schnürte. Das Waffenrecht soll verschärft und der Gefahr des Islamismus mit neuen Befugnissen für Sicherheitsbehörden und stärkerer Prävention begegnet werden. Und natürlich finden sich in dem siebenseitigen Papier des Bundesinnenministeriums (BMI) zahlreiche aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, die mehr oder weniger konkret ausgeführt werden.

1. Erleichterte Ausweisungen

Der erste im Kern aufenthaltsrechtliche Punkt ist eine erleichterte Ausweisung von Menschen, die durch Straftaten mit Waffen oder gefährlichen Gegenständen auffallen. Hierzu will die Koalition § 54 Abs. 1 Nr. 1d AufenthG ändern, sodass bspw. bei Straftaten mit Messern, regelmäßig ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gelten soll.

"§ 54 AufenthG spielt immer dann eine Rolle, wenn man einen Aufenthaltstitel entziehen will", erklärt Constantin Hruschka, der am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik zum Migrationsrecht forscht, im Gespräch mit beck-aktuell. Das bedeutet: Eine nicht-deutsche Person hat in Deutschland ein Aufenthaltsrecht, welches man ihr wieder aberkennen möchte. Die Folge wäre die Ausweisung. In diesem Bereich sei – wie praktisch überall im Migrationsrecht – "ziemlich viel im europäischen Recht geregelt", so Hruschka. So entscheide etwa am Ende der EuGH, was unter der "Sicherheit und Ordnung" zu verstehen sei, die in der Regel gefährdet sein muss, um eine Ausweisung zu begründen. Ob hierfür jegliche Messerkriminalität genügt, wird sich wohl in diversen Gerichtsverfahren zeigen müssen, mit denen Hruschka rechnet. Jedenfalls muss in jedem Einzelfall das Ausweisungs- gegen das Bleibeinteresse abgewogen werden.

2. Niedrigere Hürden bei Abschiebungen

Der nächste, recht detaillierte Maßnahmenkatalog betrifft die Abschiebung und will hierfür § 60 Abs. 8 AufenthG ergänzen. Die Norm betrifft Menschen, die eigentlich die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling und damit für internationalen Schutz in Deutschland erfüllen würden, aber aufgrund begangener Straftaten nicht erhalten sollen. Dies setzt gegenwärtig meist eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren voraus, lediglich für einige besondere Delikte genügt ein Jahr. Die Ampel-Koalition will diese Schwelle nun absenken und auch auf Jugendstrafen erstrecken, bei einer einjährigen Freiheitsstrafe für Erwachsene könnte dann regelmäßig die Anerkennung als Flüchtling verweigert werden.

Hruschka sagt dazu: "Meines Erachtens ist bereits die geltende Rechtslage völkerrechtswidrig, die schon nach den Ereignissen der Kölner Silvesternacht 2015 erheblich verschärft wurde." Die Ausschlussgründe verstießen in dieser Form gegen die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die einen Ausschluss des Flüchtlingsschutzes nur in engen Grenzen erlaube, so Hruschka. 

Und selbst wenn man die Forderungen durchsetzte, führten sie keineswegs unmittelbar dazu, dass mehr Menschen ausreisen müssten. Denn wenn aufgrund individueller Verfolgung im Herkunftsstaat eigentlich eine Anerkennung als Flüchtling erfolgen müsste, bestünde ein Abschiebeverbot aufgrund von Art. 3 EMRK, betont Hruschka, der damit einen eher geringen Nutzen der Maßnahme vermutet.

3. Wer heimreist, verliert den Schutzstatus

Wer ohne einen triftigen Grund in sein Heimatland zurückkehrt, soll künftig einen bestehenden Flüchtlingsschutz in Deutschland verlieren - beispielsweise bei Urlaubsreisen. Das sei prinzipiell mit der GFK vereinbar, sagt Hruschka. Hiernach bekämen anerkannte Flüchtlinge einen besonderen Reiseausweis, der explizit nicht für ihr Herkunftsland gelte. Unterstelle sich eine solche Person dennoch wieder dem Schutz dieses Landes, könne ihr der Flüchtlingsstatus in Deutschland aberkannt werden. "Die Frage ist: Was interpretiert man als Schutzunterstellung?" bemerkt Hruschka. Eine Urlaubsrückreise könne aber ein Indiz für eine fehlende Verfolgungsgefahr sein.

4. Das Dublin-Verfahren

Im Zentrum der Diskussion steht wieder das sogenannte Dublin-Verfahren, wonach grundsätzlich derjenige EU-Staat für den Asylantrag einer Person zuständig ist, in den diese zuerst eingereist ist. Die Bundesregierung will nun Menschen den weiteren Bezug von Sozialleistungen in Deutschland streichen, wenn für sie eigentlich ein anderer Staat zuständig wäre, sobald dieser einem Übernahmeersuchen der Bundesrepublik zugestimmt hat. Die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag Britta Haßelmann ist jedoch skeptisch ob der Vorgaben für ein menschenwürdiges Existenzminimum: "Es ist bereits geltende Rechtslage, dass Menschen die ausreisepflichtig sind, nur einen eingeschränkten Anspruch haben", sagte Haßelmann den Zeitungen der Mediengruppe Bayern und verwies auf klare Vorgaben des BVerfG in Bezug auf das Existenzminimum, die auch für Geflüchtete gelten. Zudem habe man die Rechtsprechung des EuGH zu beachten. Hierauf verweist auch Constantin Hruschka und ergänzt: "Nach der Rechtsprechung des EuGH bleibt Deutschland zuständig für eine geflüchtete Person, bis sie in einen anderen Staat überstellt wurde. Bis dahin stehen ihr hier in Deutschland aufgrund der Aufnahme-Richtlinie Sozialleistungen zu."  Die Pläne der Regierung hält er daher für "klar europarechtswidrig".

Überstellungen im Dublin-Verfahren scheitern häufig nicht an den Betroffenen, sondern am Ersteinreisestaat, der oftmals kein Interesse daran hat, die Menschen zurückzunehmen. Wie groß das Versagen des Dublin-Systems ist, zeigt ein Blick in die aktuellen Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Von Januar bis einschließlich Juli dieses Jahres gab es 44.469 Übernahmeersuchen aus Deutschland in andere EU-Staaten. 25.049 davon wurde zugestimmt und nur in 3.512 Fällen wurde die betreffende Person tatsächlich überstellt. "Der Regelfall ist: Die Personen bleiben hier", konstatiert Hruschka, der es daher "ein bisschen verlogen" findet, Menschen durch Leistungskürzungen zur Ausreise drängen zu wollen. Dass das Dublin-Verfahren nicht funktioniere, sei seit Jahren allen Beteiligten bekannt: "Das ist im politischen Prozess immer klar gewesen."

Tatsächlich umsetzen ließen sich die gewünschten Dublin-Überstellungen derzeit ohnehin nicht, betont Hruschka: "Dafür müsste man erhebliche Ressourcen bei Ausländerbehörden und der Bundespolizei aufbauen".

5. Die Dublin-Taskforce

Um das stockende Dublin-Verfahren wenigstens ein bisschen anzukurbeln, will die Regierung eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern einrichten, die Möglichkeiten ausloten soll, das Verfahren zu verbessern – von allen Schaltstellen vielleicht die effektivste, um einen Fall wie den des mutmaßlichen Solinger Attentäters zu verhindern, so Hruschka. Dieser war zwischenzeitlich ausreisepflichtig gewesen, konnte aber von den Behörden nicht angetroffen werden und wurde in der Folge auch nicht abgeschoben. Somit war Deutschland nach Ablauf der Überstellungsfrist wieder für ihn zuständig. 

"Ich denke, es geht bei der Taskforce vor allem um eine bessere Koordination zwischen den Bundesländern, die in der Vergangenheit immer wieder angemahnt wurde", so Hruschka, "außerdem um mehr Kooperation innerhalb der EU". Doch das Problem bleibt: Bessere Verwaltungsarbeit braucht mehr Geld. Und die Ausländerbehörden fänden kaum Personal, um auch nur die offenen Stellen nachzubesetzen. "Ich habe kürzlich auf einer Tagung mit dem Leiter einer Ausländerbehörde aus Süddeutschland gesprochen", erzählt Hruschka. "Er hatte 30 Prozent offene Stellen und fand kaum jemanden, um sie zu besetzen."

6. Was nicht im BMI-Papier steht

Die Opposition, vor allem Union und AfD, werfen der Bundesregierung vor, mit dem Sicherheitspaket nicht weit genug zu gehen. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei (CDU), sagte dem Tagesspiegel: "In dem Papier steht wenig Falsches drin, aber eben auch viel zu wenig, um der aktuellen Herausforderung gerecht zu werden." Wichtig seien Zurückweisungen an den deutschen Grenzen.

Die wird es wohl nicht geben, auch, weil es rechtlich schlicht nicht erlaubt ist. Auch die kürzlich von CDU-Chef Friedrich Merz ins Spiel gebrachten Pläne, eine nationale Notlage zu erklären und so die Aufnahme weiterer Geflüchteter auszusetzen, hält der Migrationsrechtler Hruschka für illusorisch: "Ungarn hat ein paar Mal diese Möglichkeit über Art. 72 AEUV versucht, aber der EuGH verlangt dafür, dass der Bestand des Staates gefährdet sein muss." So weit dürfte es in Deutschland noch nicht sein. Im Juni 2022 sei zudem Litauen wegen eines Aufnahmestopps irregulär eingereister Personen vom EuGH verurteilt worden: "Der Gerichtshof sagt klar, dass man auch für irregulär Eingereiste ein Verfahren durchführen muss", so Hruschka. Und: Auch der Plan systematischer Zurückweisungen an den Grenzen würde wohl einen erheblichen zusätzlichen Personalaufwand bedeuten und sei daher nicht kurzfristig realisierbar.

Für den Migrationsrechtler ist daher eine besser ausgestattete Verwaltung der Schlüssel, um die Fluchtbewegungen besser zu kontrollieren. Doch von mehr Geld für die Behörden ist im Papier des BMI keine Rede. Neue Vorschriften sind politisch leicht umzusetzen, bewirken aber noch keine einzige Abschiebung. Tatsächlich sei erforscht, dass sie die Behörden sogar lähmten, erklärt Hruschka. "Wir sind bei den bestehenden Regeln schon an die Grenzen des Machbaren gegangen", meint er. Nun sei man "in der nächsten Verschärfungsrunde angekommen". Stattdessen sollte man sich aus seiner Sicht auf das bestehende rechtliche Instrumentarium konzentrieren: "Die rechtlichen Grundlagen sind da, wenn man ausreichende Ressourcen zur Verfügung stellt."

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 30. August 2024 (ergänzt durch Material der dpa).