Im ersten Quartal 2024 haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission die lange erwartete Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) beschlossen. Da die Reform vor den Wahlen zum Europäischen Parlament abgeschlossen werden sollte, verhandelte man unter hohem Zeitdruck und vor allem von Seiten des Europäischen Parlaments mit großer Kompromissbereitschaft. Die Einigung wurde trotz skeptischer Stimmen als wichtiger Erfolg gefeiert, weil sie sowohl ein neues Grenzregime als auch einen neuen Solidaritätsmechanismus zur gerechteren Verteilung von Geflüchteten vorsieht.
Gut ein Jahr später und in der Halbzeit der Umsetzung aller Rechtsakte bis Mitte 2026 ist die Freude der Skepsis gewichen. Unter anderem Ungarn und Polen wollen die Reform nicht umsetzen, in Deutschland ist die noch im November beschlossene Umsetzung durch die Ampel-Koalition am Ende der Legislaturperiode auf der Strecke geblieben, während der Kanzlerkandidat der Unionsparteien Friedrich Merz ohnehin eher auf nationale Alleingänge setzt. Andere Staaten fordern unterdessen weitere Verschärfungen am beschlossenen System, für Mitte März ist zudem der Vorschlag der Kommission für eine Reform der Rückführungsrichtlinie angekündigt. In dieser unübersichtlichen Lage erscheint es angebracht, sich noch einmal die wesentlichen Inhalte der GEAS-Reform vor Augen zu führen und diese einzuordnen.
Das Reformpaket umfasst zehn verschiedene Rechtsakte, die in einem engen Schriftformat über 500 Seiten füllen. In rechtsförmlicher Hinsicht werden zunächst einige Regelungen, die bislang in einer Richtlinie standen, in unmittelbar anwendbare Verordnungen gegossen. Dies betrifft vor allem die Qualifikationsrichtlinie und die Verfahrensrichtlinie. Damit soll ein einheitliches Asylsystem in den Mitgliedstaaten ermöglicht werden, deren nationale Regelungen häufig fehleranfällig sind und aufwändige Vertragsverletzungsverfahren nach sich ziehen.
Asylverfahren an den EU-Außengrenzen und Regeln für eine gerechte Verteilung
Zudem werden bestehende Rechtsakte auch inhaltlich überarbeitet. Hierbei kam es an vielen Stellen zu Änderungen, die vor allem dazu dienen sollen, die Verfahren zu vereinfachen und wirksamer zu machen. Folgende Aspekte aus den einzelnen Rechtsakten sind dabei besonders wichtig:
Die Asylverfahrensverordnung hält ein entscheidendes Element des neuen Systems bereit, nämlich die vielfach geforderten Asylverfahren an den EU-Außengrenzen (Art. 43 bis 54). Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, solche Grenzverfahren in bestimmten Fällen durchzuführen: bei Täuschung durch Schutzsuchende, bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder wenn die Anerkennungsquote im Herkunftsland des oder der Geflüchteten 20% oder weniger beträgt (Art. 45). Damit will man verhindern, dass z.B. Menschen aus Staaten, deren Bürgerinnen und Bürger regelmäßig kein Recht auf Asyl in der EU haben, unkontrolliert in das Unionsgebiet einreisen, was später eine Abschiebung erschwert. Für diese Grenzverfahren wird auch ein besonderes Rückkehrverfahren eingeführt, das vor allem weitgehende Beschränkungen der Bewegungsfreiheit vorsieht.
In den Art. 46 bis 49 wird dann das neue Konzept der "angemessenen Kapazität" für die Aufnahme von Schutzsuchenden und die Durchführung von Asylverfahren normiert. Diese Kapazität wird sowohl für die gesamte EU als auch für jeden Mitgliedstaat einzeln festgelegt. Das neue Konzept des "sicheren Staats" (Art. 57 bis 64) nimmt mehrere der Drittstaatenkonzepte der Asylverfahrensrichtlinie auf und erweitert sie. Besonders relevant ist dabei Art. 49 Abs. 5 Buchst. b), wonach die Annahme, dass eine geflüchtete Person aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist, voraussetzt, dass eine "Verbindung" zwischen dem Schutzsuchenden und dem betreffenden Drittstaat besteht, aufgrund derer "es sinnvoll wäre, dass er sich in diesen Staat begibt". Dieses Verbindungselement soll aber nach Medienberichten im Laufe des Jahres noch gestrichen werden. Dadurch würde die Umsetzung der sogenannten Drittstaatenkonzepte erleichtert.
Zudem ersetzt die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (AMM-VO) die Dublin-III-Verordnung, in der die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Durchführung von Asylverfahren geregelt waren. Sie führt zwei neue Konzepte der Steuerung von Migration ein: erstens einen "gemeinsamen Rahmen für Asyl- und Migrationsmanagement" und zweitens den sogenannten Solidaritätsmechanismus. Dieser sieht einen gerechten Verteilungsschlüssel für Geflüchtete auf die Mitgliedstaaten vor. Alternativ zur Aufnahme von Schutzsuchenden können die Länder jedoch auch Geldbeiträge leisten, um ihrem Anteil an der Bewältigung der Migrationslasten gerecht zu werden. Zudem sind in der Verordnung neue Sanktionen vorgesehen, wenn Schutzsuchende ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen. Die Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren werden zeitlich und administrativ gestrafft und die Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber der Dublin-III-Verordnung beschnitten.
Keine Freizügigkeit, keine Leistungen bei Ausreisepflicht
In der neuen Qualifikationsverordnung werden – wie in der alten Qualifikationsrichtlinie – die inhaltlichen Kriterien für die Anerkennung von Schutzsuchenden als Flüchtlinge oder als subsidiär Schutzberechtigte normiert. Eine wichtige Änderung ist hier der neue Art. 27, der vorsieht, dass anerkannte Flüchtlinge keine Freizügigkeit innerhalb der EU genießen. Art. 40 sieht überdies nun vor, dass, wer sich unerlaubt in einen anderen Mitgliedstaat begibt, seine bis dato erworbene Aufenthaltsdauer einbüßt, die wichtig ist, um eines Tages ein Daueraufenthaltsrecht zu erlangen.
Die überarbeitete Aufnahmerichtlinie muss schließlich durch die Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Darin werden nun u.a. die Möglichkeiten zur Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Schutzsuchenden und zur Inhaftierung ausführlicher geregelt. Der neue Art. 21 sieht außerdem vor, dass Geflüchtete, die zuständigkeitshalber an einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden sollen, keinen Anspruch mehr auf Asylbewerberleistungen in ihrem bisherigen Aufenthaltsland haben. Wer sich also trotz einer solchen Überstellungsentscheidung weiter bspw. in Deutschland aufhält, erhält hier keine Geld- oder Sachleistungen mehr. Lediglich die grund- und menschenrechtlich gebotene Minimalversorgung soll dabei erhalten bleiben. Was genau das praktisch bedeutet, bleibt abzuwarten.
Mit der Krisenverordnung will die EU zudem in Fällen außergewöhnlich großer Flüchtlingsströme Alleingängen einzelner Mitgliedstaaten vorbeugen und einen Mechanismus schaffen, der Abweichungen von den europäischen Standards vorübergehend legalisiert. Der Begriff der "Krisensituation" wird dabei großzügig definiert und umfasst sowohl "außergewöhnliche Situationen von Massenankünften" von Schutzsuchenden und Migranten als auch "Instrumentalisierungssituationen". Dahinter verbergen sich Versuche anderer Staaten, Flüchtlingsströme gewissermaßen als "Waffe" gegen die EU einzusetzen.
GEAS muss nun liefern
Für die deutsche Rechtsordnung bedeutet die GEAS-Reform zunächst, dass das nationale Recht weiter an Bedeutung verliert, weil die Regelungen zur Anerkennung und zum Verfahren nun in den direkt anwendbaren EU-Verordnungen stehen. Wie die bisherigen Ausführungen erkennen lassen, erhalten die nationalen Behörden aber auch mehr Handlungsspielraum, vor allem hinsichtlich der Mitwirkungspflichten, der Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, der Sanktionen und der Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat. Zurückweisungen an den Binnengrenzen sind aber weiterhin nicht vorgesehen.
Die neuen Grenzverfahren und der Solidaritätsmechanismus bedeuten sicherlich einen administrativen Mehraufwand. Dieser Mehraufwand ist aus deutscher Perspektive aber auch mit der Aussicht auf Entlastung verbunden, wenn durch die Filterfunktion der Asylverfahren an den Außengrenzen weniger Menschen überhaupt in die EU und damit auch nach Deutschland gelangen.
Angesichts der nach wie vor vorhandenen Skepsis gegenüber der Reform in einigen Mitgliedstaaten und auch in Teilen der deutschen Politik ist es derzeit vor allem wichtig, die Umsetzung zu beschleunigen, damit der neue Rechtsrahmen zur Geltung kommt und seine Wirkungen erkennbar werden. Leider ist es dazu in der aktuellen Legislaturperiode nicht mehr gekommen. Doch nur so ist der derzeit vorherrschenden Obstruktion und den Rufen nach einer weitergehenden Abschottung gegenüber Schutzsuchenden wirksam zu begegnen. "Rückenwind" könnte die Tatsache geben, dass die Zugangszahlen von Geflüchteten bereits im Jahr 2024 um ein Drittel zurückgegangen sind.
Prof. Dr. Winfried Kluth ist Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist zudem Leiter der Forschungsstelle Migrationsrecht, Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration sowie Mitherausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift für Ausländerrecht und -politik (ZAR).