Es mutet ein wenig merkwürdig an, dass einer der mutmaßlich Hauptverantwortlichen für den Diesel-Skandal erst nach so vielen Jahren zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden soll. Martin Winterkorn, der frühere Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, muss sich ab Dienstag in einem Prozess vor dem LG Braunschweig wegen gewerbsmäßigen Betrugs, uneidlicher Falschaussage und Marktmanipulation verantworten (Az. 16 KLs 411 Js 23888/16 (75/19)).
Verhandelt werden vor der 16. Strafkammer Vorwürfe aus drei unterschiedlichen Anklagen, die alle ihre Wurzeln im sogenannten Diesel-Skandal haben. Dahinter verbirgt sich eine groß angelegte Täuschung der Öffentlichkeit durch mehrere Automobilkonzerne über den Schadstoffausstoß von Diesel-Fahrzeugen. Dessen Überprüfung wurde mittels einer Abschalteinrichtung in der Motorsteuerungssoftware manipuliert, sodass bei Überprüfungen niedrigere Werte ausgeworfen wurden als im tatsächlichen Betrieb im Straßenverkehr.
Martin Winterkorn stand nach Bekanntwerden des Skandals als damaliger Vorstandsvorsitzender von VW schnell im Zentrum der Kritik, wies aber eine Verantwortung für die Täuschung von sich. Anfang 2024 äußerte sich Winterkorn erstmals als Zeuge vor Gericht. "Ich halte diese Vorwürfe für unzutreffend", sagte er damals im Rahmen eines Zivilprozesses von Investoren gegen VW vor dem OLG Braunschweig. Winterkorn bezog sich dabei auf die beiden Anklagen wegen Betrugs und Marktmanipulation von der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Die Anklage wegen Falschaussage im Bundestag kommt aus Berlin.
Winterkorn will nichts von Manipulationen gewusst haben
Die Vorwürfe gegen Winterkorn sind zahlreich und liegen beinahe neun Jahre zurück. Um die Erinnerung für die breite Öffentlichkeit wiederherzustellen, trug die Wirtschaftsstrafkammer des LG daher nun vor Prozessbeginn die gebündelten Vorwürfe in einer sechsseitigen Vorschau zusammen.
Der Betrugsvorwurf (§ 263 Abs. 5 StGB) ist gewissermaßen der Kern der Diesel-Affäre: Die Staatsanwaltschaft wirft Winterkorn vor, nachdem er Kenntnis von den rechtswidrigen Manipulationen an Diesel-Motoren erlangt habe, diese nicht gegenüber den zuständigen Behörden sowie den Kundinnen und Kunden offengelegt und den weiteren Einbau der sogenannten "Abschalteinrichtungen" nicht unterbunden zu haben. Winterkorn hat stets behauptet, nichts von den Vorgängen in seinem Konzern gewusst zu haben.
Der Vorwurf der Marktmanipulation basiert indes darauf, dass Winterkorn als Vorstandschef nach dem WpHG verpflichtet gewesen sei, nach Kenntnis vom Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung die Öffentlichkeit über die Situation zu informieren. Da VW durch den Betrug absehbar hohe Schadensersatzforderungen und Strafzahlungen drohten, handelte es sich um ein kursrelevantes Ereignis, über das Winterkorn unverzüglich hätte berichten müssen, so die Anklage.
2017 soll er dann vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags uneidlich falsch dazu ausgesagt haben (§ 153 StGB).
Gesundheitliche Probleme verzögern Prozess
Dass es fast genau neun Jahre seit Bekanntwerden des Dieselskandals gedauert hat, ehe sich Winterkorn vor Gericht verantworten musste, liegt auch am wechselhaften Gesundheitszustand des 77-Jährigen. So hatte er eigentlich gemeinsam mit vier anderen Ex-VW-Managern sowie -Ingenieuren schon ab September 2021 auf der Anklagebank Platz nehmen sollen. Kurz vor Beginn attestierte aber ein Gutachten Winterkorn fehlende Verhandlungsfähigkeit nach mehreren Hüftoperationen. Um dennoch mit der Aufarbeitung des Diesel-Skandals voranzukommen, trennte die Kammer den Winterkorn-Komplex von diesem Verfahren ab und erntete dafür reichlich Kritik.
Auch hinter dem nun geplanten Prozess gegen Winterkorn steht daher ein Fragezeichen. Aus dem Landgericht waren nach dpa-Informationen bis heute Mittag keine Anzeichen für eine erneute Verschiebung aus gesundheitlichen Gründen zu vernehmen. Winterkorn war erst im Juli dieses Jahres nach einem medizinischen Notfall erneut am Knie operiert worden. Der Eingriff sei gut verlaufen, Winterkorn körperlich aber stark geschwächt, hieß es damals aus seinem Umfeld. Ein Aufenthalt in einer Reha-Klinik wurde nötig. Die Frage, ob der frühere Vorstandschef tatsächlich bald nahezu jede Woche von Bayern nach Niedersachsen reist, um sich für zwei Tage auf die Anklagebank zu setzen, ist naheliegend. Das LG Braunschweig hat für den Strafprozess immerhin fast 90 Termine bis September 2025 angesetzt.
Folgen des Diesel-Skandals: Schaden in Milliardenhöhe und eine "Lex VW"
Der Diesel-Skandal war im September 2015 durch Nachforschungen von US-Umweltbehörden und Wissenschaftlern bekannt geworden. Nach Angaben des Gerichts waren von den Dieselmanipulationen etwa neun Millionen Fahrzeuge in Europa und den USA betroffen, den Käufern soll ein Vermögensschaden von mehreren 100 Millionen Euro entstanden sein. Die Affäre stürzte VW in die schwerste Krise der Firmengeschichte und kostetet Milliarden Euro für die juristische Aufarbeitung. Winterkorn trat zurück und sagte später, er habe zu akzeptieren, dass sein "Name verbunden ist mit der sogenannten Dieselaffäre".
Seit Bekanntwerden der Manipulationen hat es zahllose Zivilprozesse in Deutschland wie auch im Ausland gegeben, außerdem haben sich ein Untersuchungsausschuss des Bundestags, eine Untersuchungskommission des Bundesverkehrsministeriums und viele weitere Institutionen mit dem Diesel-Skandal und seinen Folgen befasst. Er hatte sogar rechtpolitische Folgen: So wurde die Musterfeststellungsklage als Instrument für Massenverfahren eingeführt, um die Verbraucherrechte gegenüber großen Konzernen zu stärken. Da der Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Instruments bewusst so gewählt wurde, dass es noch rechtzeitig vor der Verjährung zahlreicher Diesel-Ansprüche zur Verfügung stand, trägt es bis heute den inoffiziellen Beinamen "Lex VW".
Bereits im vergangenen Jahr ist Winterkorns Nachfolger an der Audi-Spitze, Rupert Stadler, wegen seiner Rolle im Diesel-Skandal vom LG München II aufgrund ähnlicher Vorwürfe, wie sie nun gegen Winterkorn erhoben werden, wegen Betrugs durch Unterlassen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Hiergegen ist noch eine Revision anhängig.