NJW-Debatte vor 60 Jahren: Wie Nachkriegsjuristen um die Schuld der NS-Täter stritten
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Die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit drehte sich auch um die Frage, ob die Täter durch einen Befehl Hitlers zum Morden berechtigt gewesen waren. Die Debatte endete gar mit dem Rücktritt des damaligen Kultusministers Theodor Maunz, wie Sebastian Felz erinnert.

Im Jahrgangsband 1964 der NJW finden sich neun Beiträge, die unter Titeln wie "Rechtsfragen der Einsatzgruppen-Prozesse", "Rechtsmäßigkeit von Mordgeboten?", "Das Dritte Reich – Rechtsstaat oder Unrechtsstaat?" oder "Gesetzmäßige Judentötungen?" thematisieren, ob SS-Männer, die an der Massenermordung der europäischen Juden mitgewirkt hatten, rechtlich im Einklang mit dem (Un-)Recht des "Dritten Reiches" gehandelt hatten. Die Rechtsanwälte Anton Roesen, Walter Lewald (damals Herausgeber der NJW) und Konrad Redeker beteiligten sich an der Kontroverse ebenso wie "SPD-Kronjurist" Adolf Arndt oder die Professoren Hans Welzel und Jürgen Baumann.

Den Auftakt der Debatte unter dem Titel "Rechtsfragen der Einsatzgruppen-Prozesse" machte der Strafverteidiger Anton Roesen (NJW 1964, 133). Er konstatierte, dass in den bisherigen "SS-Einsatzgruppen-Prozessen" um die Tötung von "Juden, Funktionären und Geisteskranken während des Rußland-Feldzuges" sehr unterschiedliche Urteile bei vergleichbaren Sachverhalten ergangen seien. Roesen ging es um die Frage, ob Hitler bei seinen – von Roesen als gesichert angesehenen – "Tötungsbefehlen" als gesetzgebungsbefugt anzusehen sei und die ausführenden Personen aus diesem Grund nicht strafrechtlich belangt werden könnten. Die Existenz eines Befehls Hitlers zum Holocaust ist indes bis heute umstritten. Ein schriftlicher Befehl ist jedenfalls nie gefunden worden.

Zweifelhafte Rechtfertigung für SS-Morde

Für Roesen bestand u.a. mit Blick auf das "Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr" vom 3. Juli 1934 und den "Beschluss des Großdeutschen Reichstages" vom 26. April 1942 kein Zweifel daran, dass Hitler die Gesetzgebungsbefugnis hatte. Mit Zitaten aus der damaligen Staatsrechtslehre (Carl Schmitt und Paul Ritterbusch) sowie den Ausführungen von Hermann Jahrreiß über die "absolute Monokratie" Hitlers vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 untermauerte er diese These.

Die Argumentation Roesens ist jedoch zweifelhaft. Das "Amnestiegesetz" aus dem Sommer 1934 zur Legalisierung der Morde an politischen Gegnern verdeutlicht gerade, dass die Mordbefehle Hitlers unrechtmäßig waren, sodass es einer Amnestierung bedurfte. Der Rechtsakt aus dem Jahr 1942 entband Hitler zwar von "allen bestehende[n] Rechtsvorschriften", aber nur, um Soldaten, Richter, Beamte oder Arbeiter und Angestellte von ihren Posten entfernen zu können. Im Gegensatz zum OLG Frankfurt a.M. (Urteil vom 12.08.1947 – Ss 93/47 zu Euthanasie-Morden) sah Roesen auch kein Problem darin, dass diese "Führerbefehle" nicht im Reichsgesetzblatt veröffentlicht worden waren, wie es für das Inkrafttreten (Art. 70 f. WRV) erforderlich war. Des Weiteren habe der BGH – nach Roesens Lesart – die Gesetzesqualität der "Führerbefehle" anerkannt: Das Gericht habe entschieden (NJW 1962, 2308), dass ein Strafverfahren wegen der Tötung eines jüdischen Dolmetschers nach § 69 StGB a.F. geruht habe, da "der als Gesetz eingeschätzte ‚Führerwille‘ der Strafverfolgung der Angeklagten wegen der Tötung eines jüdischen Kriegsgefangenen objektiv" entgegengestanden habe.

Im Verlauf der Debatte stellte Roesen in einer Erwiderung (NJW 1964, 1111) klar, dass das strafrechtliche Tötungsverbot der §§ 211 f. StGB im "Kernbereich des Rechts" liege und die nationalsozialistischen Mordbefehle dagegen verstoßen hätten, also nichtig gewesen seien. Es wäre seiner Meinung angezeigt gewesen, entsprechende Gesetze zu erlassen, die den Übergang vom Unrechtstaat des NS zum Rechtsstaat der Gegenwart gestaltet hätten. Seine Thesen wurden nicht nur kritisch in der NJW diskutiert, sondern im zur Debatte parallel verlaufenden Auschwitz-Prozess auch von den Verteidigern umgehend positiv rezipiert, um die Straflosigkeit ihrer Mandanten zu beweisen.

"Gesetzesmäßige Judentötungen?"

Den Thesen Roesens trat zunächst unter der provokativen Überschrift "Gesetzesmäßige Judentötungen?" (NJW 1964, 521) der Bonner Strafrechtsprofessor Hans Welzel entgegen. Welzel bestritt insbesondere, dass "geheime Führerbefehle" ohne Veröffentlichung Gesetzeskraft erlangen konnten. Welzel schrieb auch dagegen an, dass der BGH in seiner Entscheidung (NJW 1962, 2308) den "Führerbefehl" zum Holocaust als "gesetzliche Vorschrift" im Sinne des Ruhens der Verjährung gesehen habe. In entsprechender Anwendung des § 69 StGB a.F. könne auch "eine rechtswidrige Anordnung der Staatsführung" die Strafverfolgung wie ein "gesetzliches Hindernis" ruhen lassen. Das Aufschwingen eines Machthabers zum "Herr" über Leben und Tod nach "Gutdünken" sei aber immer "ein Akt der Macht, nicht des Rechts". Letztendlich handelte es sich bei Welzel um eine religiös fundierte Argumentation für das Tötungsverbot.

Auch der Bonner Rechtsanwalt Konrad Redeker kritisierte die Ausführungen Roesens (NJW 1964, 1097). Er argumentierte dabei jedoch eher formalistisch: Hitler habe die Tötungsverbote der §§ 211 und 212 StGB nicht suspendiert, da es keine entsprechend veröffentlichte Legislativakte gegeben habe. Alle Äußerungen zur unbeschränkten Gesetzgebungsbefugnis Hitlers – etwa in Schriften von Theodor Maunz, Karl Larenz, Ernst Rudolf Huber oder Günther Küchenhoff – müssten sich zudem an überpositiven und naturgesetzlichen Maßstäben der Unterscheidung von Recht und Unrecht messen lassen, meinte Redeker.

Der Tübinger Strafrechtsprofessor Jürgen Baumann diskutierte bei der "Auseinandersetzung über die Frage der Qualität eines ‚Führerbefehls‘" (NJW 1964, 1398) das Verhältnis des nationalsozialistischen Unrechts zur allgemeinen Idee einer Rechtsordnung. Eine "Aufhebung aller bisherigen Gesetze" habe es nach der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht gegeben. Ein angeblicher Mordbefehl Hitlers sei "naturrechtswidrig" gewesen, womit auch eine partielle Aufhebung des Tötungsverbotes nichtig sei. Dies führte Baumann sodann zur Frage, ob die Täter sich auf das Rückwirkungsverbot berufen könnten, was er jedoch ablehnte. Da der vor-nationalsozialistische Rechtszustand weiter in Kraft gewesen sei, nämlich das Tötungs- und Mordverbot der §§ 211 f. StGB, sei die Rückwirkungsproblematik für die NS-Mörder gar nicht eröffnet, da für sie das Verbot der §§ 211 f. StGB immer gegolten habe.

Effektivität nicht mit Legitimität verwechseln

Der "Kronjurist" der SPD-Bundestagsfraktion, Adolf Arndt, griff zweimal (NJW 1964, 486 und 1310) in die Debatte ein. Arndt warf Roesen vor, die verbrecherischen Befehle Hitlers als "Recht" zu benennen und damit die "äußerliche und temporäre Effektivität" mit Legitimität zu verwechseln. Hitler habe in jeglicher Weise die europäische Tradition zerstört, die es verbiete, schuldlose Menschen zu töten. Die Nazis seien durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, sie hätten einen "Gegenstaat" etabliert und statt durch Recht durch Willkür geherrscht.

Im abschließenden Aufsatz beschäftigte sich einer der damaligen NJW-Herausgeber, Walter Lewald, (NJW 1964, 1659) mit den Ausführungen des Historikers Hans Buchheim im Frankfurter Auschwitz-Prozess am 60. Verhandlungstag (nachzulesen im Buch Broszat u.a. "Anatomie des SS-Staates"). Buchheim unterschied "militärische" und "politische" Befehle: Letztere waren demnach nicht rechtsverbindlich, sondern die Pflicht des Gehorsams ergab sich aus einer ideologischen "Treuepflicht". Es seien "außernormative" Befehle gewesen, die kein neues Recht setzen und auch keinen Befehlsnotstand hätten auslösen können, da sie sich außerhalb des Rechts bewegt hätten. Folglich habe ein "Führerbefehl" auch das strafrechtliche Tötungsverbot nicht suspendieren können. So brauche es weder das Naturrecht, um die Nichtigkeit des Mordgebotes durch einen "geheimen Führerbefehl" zu begründen, noch seien die Verurteilungen der NS-Mörder unter der Problematik des Rückwirkungsverbotes zu diskutieren, da das StGB nie suspendiert worden sei.

Ein Rücktritt und eine Mahnung

Die Debatte hatte auch politische Konsequenzen: Der Spiegel berichtete Anfang Juli 1964 ("Wenn ein Volksschädling […]") über Konrad Redekers NJW-Artikel mit den kompromittierenden Äußerungen von Theodor Maunz, woraufhin die FDP-Politikern Hildegard Hamm-Brücher den bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel auf die (damals schon keineswegs unbekannten) NS-Ausführungen seines Kultusministers hinwies. Maunz trat daraufhin am 10. Juli 1964 zurück.

Redekers Artikel endete übrigens mit einem Auftrag, der über die tagesaktuelle Brisanz hinausging: Er sah auf eine Juristengeneration zurück, die dem Elan und dem Druck des Nationalsozialismus aufgrund fehlender "rechtlicher Grundpositionen" wenig habe entgegensetzen können:

"Aufgabe ist die nüchterne, das Irrationale solchen überpositiven Rechts rationell faßbar machende Besinnung auf die Grundlagen des Rechts überhaupt. Diese Aufgabe sollte nicht im Schutz des Grundgesetzes dem abseits wirkenden Rechtsphilosophen und allenfalls der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überlassen werden, sondern Gegenstand jeder juristischen Ausbildung, aber auch der eigenen späteren Weiterentwicklung des Juristen sein".

Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Mitglied des Vorstandes des "Forum Justizgeschichte".

Gastbeitrag von Dr. Sebastian Felz, 7. August 2024.