Nachwuchsmangel im Anwaltsnotariat: Auf die Rechnung kommt es an
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Vor dem BVerfG liefert sich ein 71-jähriger ehemaliger Anwaltsnotar eine Zahlenschlacht mit den Notarkammern. Er behauptet, seiner Branche fehle es an Nachwuchs – die BNotK ist anderer Ansicht. Manche Bundesländer lassen derweil mit einem Trick ihre unbesetzten Stellen verschwinden.

Dietrich Hülsemann aus Dinslaken ist vor das BVerfG gezogen, um die Altersgrenze für Anwaltsnotarinnen und -notare zu Fall zu bringen. Doch anstatt diese Frage – wie in der Vergangenheit – einfach per Kammerbeschluss zu entscheiden, haben die Karlsruher Richterinnen und Richter eine mündliche Verhandlung anberaumt und diverse Sachverständige um Stellungnahme gebeten. Ein Urteil steht noch aus, doch das Vorgehen zeigt: das BVerfG nimmt die Sache ernst.

Eine der zentralen Fragen des Verfahrens ist die nach der Bewerberlage im Anwaltsnotariat. Denn die Branche leide an erheblichem Nachwuchsmangel, so die These Hülsemanns, der deshalb dafür plädiert, den Beruf auch für Über-70-Jährige zu öffnen. Tatsächlich zeigen die Statistiken, dass die Zahl der Anwaltsnotarinnen und -notare seit Jahren sinkt. Im Jahr 2011, in dem die notarielle Fachprüfung eingeführt wurde, waren es noch knapp 6.400 Berufsvertreter, heute sind es nur noch 4.600 – auch davor sank die Zahl bereits.

Die Statistik zeigt auch, dass weniger Menschen zur notariellen Fachprüfung antreten. Waren es 2016 noch knapp 300 Prüflinge, so haben sich 2023 nur noch gut 130 Kandidatinnen und Kandidaten an die Prüfung gewagt. Vor allem aber – und auch das wurde im Verfahren vorgebracht – blieben die ausgeschriebenen Stellen in großem Umfang unbesetzt.

Nur jede vierte Stelle besetzt

Es gibt also weniger Anwaltsnotarinnen und -notare als früher. Doch ist das gleichbedeutend mit einem Nachwuchsmangel, der im schlimmsten Fall zu einer Unterversorgung der Bevölkerung mit notariellen Dienstleistungen führen könnte? Die Antwort auf diese Frage ist kompliziert. Denn sie hängt mit der Art und Weise zusammen, wie neue Stellen für Anwaltsnotarinnen und -notare festgesetzt und ausgeschrieben werden.

Dafür ist in denjenigen Bundesländern, in denen es ein Anwaltsnotariat gibt – Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Teile Nordrhein-Westfalens – die Justizverwaltung zuständig. Gemäß § 4 BNotO und den jeweiligen Landesverwaltungsvorschriften ermittelt sie den Bedarf an (neuen) Anwaltsnotarinnen und -notaren und schreibt die entsprechende Zahl an Stellen aus. Zuletzt sah das in Niedersachsen jedoch so aus: Im Jahr 2023 waren im OLG-Bezirk Celle 129 Notarstellen ausgeschrieben, 98 davon hat das niedersächsische Justizministerium wieder zurückgenommen. Der Grund: Es gab zu wenig Bewerbungen.

In Bremen konnten zuletzt nach Angaben des OLG nur zwei von fünf Stellen besetzt werden, in Schleswig-Holstein 2024 sogar nur jede vierte ausgeschriebene Stelle. "In der Tat sind die Bewerberzahlen rückläufig, so dass die Gesamtzahl der in Schleswig-Holstein tätigen Anwaltsnotare in den letzten Jahren kontinuierlich gefallen ist", heißt es auf beck-aktuell-Anfrage aus dem OLG.

Dabei zeigen sich deutliche regionale Unterschiede. So bestätigt das OLG Frankfurt auf Anfrage: "Während etwa im LG-Bezirk Frankfurt grundsätzlich mehr Bewerber als freie Stellen vorhanden sind, stellte sich dies in anderen Regionen in letzter Zeit häufig andersherum dar." In Ballungszentren können Stellen demnach leichter besetzt werden. In Berlin etwa gab es zuletzt doppelt so viele Bewerber wie freie Stellen.

BNotK: "Es gibt keinen Mangel"

Trotz dieser Befunde aus den Bundesländern steht die Bundesnotarkammer (BNotK) gegenüber beck-aktuell – und auch in dem Hülsemann-Verfahren, wo sie als Sachverständige beigeladen ist – auf dem Standpunkt: "Einen Mangel an Anwaltsnotarinnen oder -notaren gibt es nicht." Die Notardichte in Deutschland sei hoch genug, um den Bedarf der rechtsuchenden Bevölkerung zu decken. Bisher habe sich noch kein Bürger beschwert.

Stattdessen spricht die Kammer von einem sogenannten rechnerischen Stellenüberhang. Was dahintersteckt, wird klar, wenn man sich die Bedarfsermittlung durch die Justizverwaltungen genauer anschaut. Sie beruht nämlich auf den Urkundsgeschäften der aktuellen Anwaltsnotarinnen und -notare. Alle Berufsträgerinnen und -träger melden der Kammer, wie viele Urkundsgeschäfte sie in dem betreffenden Jahr bearbeitet haben. Daraus errechnet die Justizverwaltung in Absprache mit den Kammern die sogenannte Bedarfszahl, also die Anzahl von Urkundsgeschäften, die einer Notarstelle entspricht. Übersteigt das Urkundsaufkommen diese Zahl, werden neue Stellen ausgeschrieben. "Während die Bedarfszahl vor einigen Jahren noch bei ca. 250 lag, liegt sie heute – je nach Bundesland – zwischen 400 und 500", erklärt Ulf Schönenberg-Wessel, der Vorsitzende der Arbeits­ge­mein­schaft Anwalts­no­tariat im Deutschen Anwalt­verein.

Der Clou: "Bei den Anwaltsnotaren liegt die Zahl der bearbeiteten Urkundsgeschäfte in der Regel deutlich über der derzeit festgelegten Bedarfszahl", so Schönenberg-Wessel. Bearbeitet also ein Notar zum Beispiel 2.000 Urkundsgeschäfte im Jahr, bindet er damit vier nach der Bedarfszahl errechnete Stellen. Bleiben dann drei Stellen unbesetzt, ergibt sich daraus noch kein Mangel an Anwaltsnotarinnen und -notaren, so die Argumentation der BNotK. Das Problem sei weniger, dass Stellen vakant blieben, sondern dass die Bundesländer einfach zu viele Stellen ausschrieben, die es eigentlich gar nicht bräuchte: "Die anfallenden Urkundsgeschäfte können von den bereits vorhandenen Anwaltsnotarinnen und -notaren problemlos erfüllt werden", heißt es von der Kammer.  

Neue Bedarfszahl: Nur Kosmetik?

Einige Bundesländer haben deshalb in den vergangenen Jahren die Bedarfszahl nach oben korrigiert, darunter Berlin und NRW. Im Kammerreport der Westfälischen Notarkammer heißt es dazu: "Vor dem Hintergrund der seit Jahren nicht besetzten Notarstellen hat sich das Ministerium mit Zustimmung der Notarkammern in NRW dazu entschlossen, die Zahl der durchschnittlichen Urkundszahlen pro Notarstelle von 275 auf 350 zu erhöhen. Diese Maßnahme führt ab dem Jahr 2021 zu einem deutlichen Rückgang der nach Bedarf auszuschreibenden Notarstellen."

Klingt simpel: Man erhöht einfach die Bedarfszahl und schon hat man kein Problem mehr mit vakanten Stellen. Aber ist das wirklich nur Kosmetik, wie etwa Hülsemann in seinem Verfahren vor dem BVerfG kritisiert? Nein, meint Schönenberg-Wessel – die Erhöhung der Bedarfszahl sei durchaus sinnvoll. "Zum einen ist das Urkundsaufkommen insgesamt gestiegen", erklärt er. "Zum anderen sind die wirtschaftlichen Anforderungen an das Notariat in den vergangenen Jahren spürbar gewachsen – etwa durch Verwaltungs- und Personalkosten sowie durch gestiegene Investitionen, etwa für die notarielle Fachprüfung. Damit sich die Tätigkeit wirtschaftlich rechnet, müssen Notarinnen und Notare heute deutlich mehr Urkundsgeschäfte bearbeiten."

Aktuell seien viele Bundesländer dabei, die Bedarfszahl neu auszutarieren, sagt Schönenberg-Wessel. Dabei haben sie ein umfassendes Organisationsermessen. Gesetzlich ist weder vorgeschrieben, wann oder wie oft sie die Bedarfszahl anpassen müssen, noch nach welchen Kriterien sie sich zu richten haben, solange die angemessene Versorgung der Rechtsuchenden und eine geordnete Altersstruktur gesichert sind. In Schleswig-Holstein etwa, wo derzeit nur jede vierte freie Stelle besetzt werden kann, hat man die Bedarfszahl seit 1991 nicht angetastet.

Das versuchte man nun sukzessive nachzuholen. Die Folge: "Es werden zwar weniger Stellen ausgeschrieben", erklärt Schönenberg-Wessel. "Gleichzeitig steigt aber die Attraktivität des Notarberufs. Berufseinsteigerinnen und -einsteiger können realistischer damit rechnen, dass ausreichend notarielle Geschäfte vorhanden sind, um die Tätigkeit wirtschaftlich tragfähig auszuüben."

"Es gibt Optimierungsbedarf"

Die Frage, ob ein Nachwuchsmangel im Anwaltsnotariat herrscht, ist also etwas komplexer als die Statistik vermuten lässt. Ob man deshalb die Altersgrenze einstampfen muss, wird das BVerfG entscheiden. Für Schönenberg-Wessel ist es viel wichtiger, den Beruf für junge Kolleginnen und Kollegen attraktiver zu machen. "Die Bedarfszahl ist nicht die einzige Stellschraube, an der wir ansetzen sollten – auch bei den Zulassungsvoraussetzungen besteht Optimierungsbedarf", sagt er.

Zum Beispiel gelte es, die Kosten für die notarielle Fachprüfung zu senken. Denn laut Schönenberg-Wessel investierten derzeit tatsächlich zu wenig Menschen die 5.900 Euro plus Vorbereitungskosten und träten zur Fachprüfung an. "Wir werden uns die geltenden Wartezeiten noch einmal genauer anschauen müssen. Derzeit gilt: Wer Anwaltsnotar werden möchte, muss fünf Jahre als Rechtsanwalt zugelassen sein – davon drei Jahre in dem Amtsgerichtsbezirk, in dem die notarielle Tätigkeit später ausgeübt werden soll, auch wenn dieser in einer eher ländlichen Region liegt. Das bringt ein durchaus langfristiges Commitment mit sich."

Die nachwachsende Generation wünschte sich aber eher Flexibilität. "Viele potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten für das Anwaltsnotariat haben sich – auch aufgrund der zunehmenden Spezialisierung – bereits als Fachanwälte etabliert. Für sie ist es oft wenig attraktiv, zusätzlich noch einmal so umfassend in die notarielle Tätigkeit zu investieren." All diese Probleme sind für Schönenberg-Wessel aber gut behebbar – und viele wollten sie anpacken: "Bei allen Beteiligten ist eine spürbare Bereitschaft erkennbar, den Anwaltsnotarberuf weiterzuentwickeln und ihn für die nächste Generation attraktiver zu gestalten."

Redaktion beck-aktuell, Denise Dahmen, 24. April 2025.

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