Das sogenannte Haushaltsurteil des BVerfG aus dem Jahr 2023 dürfte in Zukunft wohl als einer der folgenschwersten Karlsruher Richtersprüche in den Lehr- wie auch Geschichtsbüchern stehen. Nicht wenige – auch die beteiligten Politikerinnen und Politiker – sehen darin den Anfang vom Ende der Ampel-Regierung. Diese hatte in ihrem Koalitionsvertrag Mittel eingeplant, die nach dem Urteil plötzlich nicht mehr da waren, ganze 60 Milliarden Euro. Die Bundesrepublik hat damals gelernt: Wackelige Haushaltsmaßnahmen können nicht nur vor Gericht scheitern, sondern auch Regierungen stürzen.
Das will die sich nun anbahnende Koalition aus Union und SPD unbedingt vermeiden, braucht aber gleichzeitig für ihre Vorhaben (Aufrüstung und Infrastruktur) sehr viel Geld. Eine Zwickmühle für den designierten Kanzler Friedrich Merz (CDU), der sich mit der SPD-Spitze am Dienstagabend auf neue Schuldenregeln verständigt hat: Ein kreditfinanziertes Sondervermögen von 500 Milliarden Euro soll die notwendigen Ausgaben der kommenden Jahre für die marode deutsche Infrastruktur decken, außerdem sollen Verteidigungsausgaben künftig nicht mehr durch die Schuldenbremse begrenzt sein. All das steht in einem Gesamtentwurf zur Grundgesetzänderung, der am 13. und 18. März in zwei Sondersitzungen des Bundestags diskutiert und nach dem Plan von Union und SPD auch verabschiedet werden soll. Er liegt beck-aktuell vor.
"Zeitenwende"-Sondervermögen reicht absehbar nicht aus
Das Dokument mit dem Titel "Formulierungshilfe für einen Gesetzesentwurf der Fraktionen CDU/CSU und der SPD im Deutschen Bundestag – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 109, 115 143h)" umfasst lediglich elfeinhalb Seiten, wovon fünfeinhalb auf die Begründung entfallen. Union und SPD nehmen darin Bezug auf den bis heute andauernden russischen Angriffskrieg in der Ukraine sowie die veränderte globale Sicherheitsarchitektur nach dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump. "Die neu gewählte US-Regierung hat auf der Münchener Sicherheitskonferenz vom 14. bis 16. Februar 2025 ihre Vorstellungen zu Verantwortung und Lastentragung der künftigen Sicherheitsarchitektur für Europa dargestellt", heißt es im Entwurf. "Es muss damit gerechnet werden, dass die USA ihr künftiges Engagement in Europa überprüfen. Europäische NATO-Partnerstaaten werden entstehende Fähigkeitslücken schließen müssen." Die mit der "Zeitenwende" eingeleitete Stärkung der Bundeswehr in Form eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro sei zum Jahresende 2024 bereits zu rund 82 Prozent gebunden gewesen und werde dauerhaft nicht ausreichen. Daher müsse sie nun "vertieft und fortgeführt werden".
Zum Beweis des Finanzierungsbedarfs im Infrastrukturbereich beruft sich der Entwurf auf den Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der in seinem Jahresgutachten 2024/2025 deutliche Mängel in den Bereichen Verkehrsinfrastruktur, allgemeinbildende Bildung und Verteidigung verzeichnet habe. Schließlich geht er auch noch auf die finanzielle Situation der Länder und Kommunen ein, die gewaltige Herausforderungen und Finanzierungsbedarfe – etwa im Bereich Bildung und Betreuung, Digitalisierung der Verwaltung, Integration von Geflüchteten und Modernisierung ihrer Infrastruktur – vor sich hätten.
Verteidigung wird nicht gebremst, Länder erhalten eigenen Verschuldungsspielraum
Für die Sanierung der Infrastruktur soll ein neuer Artikel 143h ins GG eingefügt werden, der den Bund zur Errichtung eines Sondervermögens mit eigener Kreditermächtigung von bis zu 500 Milliarden Euro befugt. Diese zweckgebundene Kreditermächtigung läuft an den Kreditobergrenzen der Schuldenregel vorbei.
Im Hinblick auf die Verteidigungsausgaben gehen Union und SPD hingegen davon aus, dass ein bloß aufgestocktes Sondervermögen nicht reichen wird, da es seiner Natur nach begrenzt ist und deshalb "die zeitliche Dimension der Finanzierungsaufgabe nicht adäquat abbildet". Deshalb sieht der Entwurf eine "(l)imitierte Bereichsausnahme für Verteidigungsausgaben im Rahmen der Schuldenregel" vor. Diese soll in Art. 109 Abs. 3 GG eingefügt werden. Im gleichen Absatz sollen zudem die Länder zur dauerhaften Finanzierung ihres Bedarfs eine eigene Verschuldungsmöglichkeit im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse erhalten. Auf eine solche Möglichkeit, wie sie dem Bund schon seit Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2009 zusteht, hatten die Länder seinerzeit verzichtet. Nun erhält die Ländergesamtheit – unabhängig von der konjunkturellen Lage – einen Verschuldungsspielraum in Höhe von 0,35% im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt.
Darf der alte Bundestag im Rausgehen die Schuldenregeln über den Haufen werfen?
Was die Angelegenheit heikel macht, ist indes weniger ihr Inhalt als der Zeitpunkt des Vorstoßes. Denn es soll nicht etwa der neu gewählte Bundestag entscheiden – dieser tritt erst am 25. März zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen – sondern der alte, inzwischen abgewählte. Dieser kann bis zur Konstituierung des neuen Parlaments noch Sitzungen abhalten und auch Gesetze beschließen. Nach Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG können Sondersitzungen einberufen werden, wenn ein Drittel der Mitglieder des Bundestags dies verlangt.
Der Grund für die Eile liegt auf der Hand: Für die Grundgesetzänderungen brauchen die Fraktionen von Union und SPD eine Zweidrittelmehrheit, die sie zusammen nicht haben. In der alten Parlamentszusammensetzung wäre ein solche bspw. mit den Grünen erreichbar, in der neuen wären Stimmen von Linke oder AfD nötig – ein vermutlich deutlich komplizierteres Unterfangen, das große Zugeständnisse erfordern würde.
Doch es stellt sich die Frage, ob ein abgewählter Bundestag im Hinausgehen noch Schulden in Höhe von zig Milliarden Euro für die kommenden Jahre billigen darf. Schließlich schreibt hiermit ein bereits delegitimiertes Parlament dem künftigen Gesetzgeber bedeutende Regeln ins Stammbuch.
Die Opposition hat nun Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines solchen Vorgehens, die AfD kündigte bereits eine Klage vor dem BVerfG an.
Bund darf Schulden machen, er muss es nicht
Zunächst lässt sich Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG entnehmen, dass die Wahlperiode eines Bundestags nicht etwa mit der Bundestagswahl endet, sondern erst mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Insoweit ist der alte bis dahin auch legitimiert, Gesetze und im Zweifel auch Grundgesetzänderungen zu beschließen. Problematisch wird das Ganze aber aus einer demokratietheoretischen Sicht dadurch, dass der alte Bundestag in der Übergangsphase zwischen Wahl und Konstituierung des neuen Parlaments eine gewisse Narrenfreiheit genießt. Schließlich ist er der demokratischen Kontrolle, die sich in der Regel durch Wahlen vollzieht, insofern entzogen, als er bereits abgewählt wurde. So könnte er nun frei beschließen, was er will, ohne den Zorn der Wählerinnen und Wähler fürchten zu müssen.
Allerdings verpflichtet der Bundestag den neuen Gesetzgeber mit einem Beschluss über den vorliegenden Entwurf keineswegs dazu, neue Schulden aufzunehmen – er gibt ihm lediglich den juristischen Spielraum dazu. Die politische Entscheidung, wie und welche Ausgaben in Zukunft getätigt werden, obliegt also weiter dem neuen Parlament. Dies betonen auch die Verfasserinnen und Verfasser des Gesetzentwurfs, wenn sie etwa zum neuen Infrastruktur-Topf schreiben: "Die Regelung des Näheren und hierunter insbesondere die Festlegung einer zweckentsprechenden Mittelverwendung wird dem einfachen Gesetzgeber überlassen." Insofern ließe sich argumentieren, dass die Beschlüsse der abgewählten Parlamentarier nicht allzu sehr ins Gewicht fallen.
In einem Beitrag auf dem Blog Juwiss warf Christian Kisczio unterdessen kürzlich einen anderen bedenkenswerten Aspekt auf: So könnte nicht der Beschluss des Bundestags selbst zum Problem werden, sondern vielmehr dessen Einberufung durch die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). Diese gehört zwar dem alten Bundestag an, muss aber nach parlamentarischer Tradition den neuen zu dessen erster Sitzung einladen. Ggf. könnte sie verpflichtet sein, noch vor Ablauf der Höchtsfrist von 30 Tagen, die Art. 39 Abs. 2 GG vorsieht, den neuen statt den alten Bundestag einzuberufen. Schließlich bestehe der alte Bundestag nur fort, um handlungsfähig zu bleiben. Nach der Wahl aber müsse möglichst bald ein neuer Bundestag zusammentreten, um den aktualisierten Willen der Wählerinnen und Wähler abzubilden, meint Kisczio. Sobald eine Einladung beider Bundestage möglich wäre, müsste sich Bas also für die neue Zusammensetzung entscheiden. Nach Kisczios Ansicht wäre das der Tag nach dem Tag, an dem das amtliche Endergebnis der Wahl festgestellt wird, also voraussichtlich der 15. März.