Semsrott-Anklage: Als Präzedenzfall nicht geeignet
© dpa | Bernd von Jutrczenka

Die Anklage gegen den Journalisten Arne Semsrott, die in dieser Woche in Berlin verhandelt wird, soll eine umstrittene Strafnorm zu Fall bringen. Die Kritik an der Norm ist berechtigt, doch es ist gut möglich, dass sie auch dieses Verfahren überleben wird.

Die Norm, welche die Pressefreiheit in Deutschland bedroht, findet sich ziemlich weit hinten im StGB: § 353d, amtlich überschrieben mit "Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen". Sie ist es, gegen die der Journalist und Aktivist Arne Semsrott nun vor dem LG Berlin I zu Felde zieht.

Kurz gesagt verbietet die Norm – genauer: ihre Nr. 3 – es, wörtlich aus amtlichen Dokumenten laufender Strafverfahren zu zitieren, bevor diese im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. Es geht dabei um Verteidigungsschriftsätze, Durchsuchungsanordnungen und dergleichen. Solche Dokumente, so will es der Gesetzgeber, sollen bis zur Hauptverhandlung für die Öffentlichkeit nicht zur Verfügung stehen.

Arne Semsrott ist Chefredakteur des Portals FragDenStaat, das sich für staatliche Transparenz einsetzt, Bürgerinnen und Bürger bei IFG-Anfragen unterstützt und auch selbst umfangreichere Recherchen führt. 2023 veröffentlichte er drei Beschlüsse des AG München aus laufenden Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der Letzten Generation wegen des Vorwurfes der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen einer möglichen Straftat nach § 353d Nr. 3 StGB gegen Semsrott ein und erhob schließlich Anklage zum LG Berlin I. Am Mittwoch und Freitag dieser Woche sind nun Termine zur Hauptverhandlung in der Sache angesetzt.

Karlsruhe ist das Ziel

Die Hauptverhandlung will Semsrott, der nach eigener Aussage in Kenntnis der Strafnorm die Dokumente veröffentlichte und damit bewusst eine Strafverfolgung in Kauf nahm, vermutlich als Bühne nutzen, um seine Kritik an dieser Schranke öffentlichen Informationszugangs kundzutun. Er hält den Paragrafen, ebenso wie die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die seine Verteidigung organisiert, für verfassungswidrig, weil sie die Pressefreiheit unzulässig einschränke. Die Norm sieht nämlich keine Ausnahme für Veröffentlichungen im Rahmen einer Presseberichterstattung vor. "Absolute Veröffentlichungsverbote, wie das in § 353d, verstoßen gegen die Pressefreiheit. Selbst einzelne Zitate aus Strafakten können in einem Strafverfahren gegen die Journalist*innen enden", kritisiert GFF-Jurist Benjamin Lück auf der Website seiner Organisation. Der angeklagte Semsrott wird auf der GFF-Seite zum anstehenden Verfahren wie folgt zitiert: "Paragraph 353d ist verfassungswidrig. Das Veröffentlichungsverbot schränkt die freie Presse ein. Es kann nicht rechtens sein, dass Journalist*innen, die faktenbasiert arbeiten, dafür strafrechtlich verfolgt werden."

Mit ihrer Kritik sind Semsrott und die GFF keineswegs allein, auch im Schrifttum spricht sich eine Mehrheit für die Korrektur oder Abschaffung der Norm aus. Somit liegt die Frage nahe: Warum gibt es diese Norm eigentlich noch, die nach Aussage des GFF-Juristen Lück "den Geist von vorgestern" atmet? 

Die kurze Antwort darauf ist: Weil das BVerfG es bereits zweimal so entschieden hat. Um aber etwas weiter auszuholen, sei kurz der Gedanke hinter dieser Strafnorm erklärt. Sie fußt im Kern auf zwei Überlegungen: Zum einen sollen Zeuginnen und Zeugen sowie auch Schöffinnen und Schöffen unbeeinflusst bleiben von vorläufigen Ermittlungsergebnissen. Zum anderen sollen aber auch Beschuldigte vor Vorverurteilungen geschützt werden, die daraus resultieren könnten, dass einzelne Dokumente ohne eine gerichtliche Überprüfung an die Öffentlichkeit gelangen und dort einen womöglich verzerrten Eindruck erwecken.

Diese Ziele werden indes ein Stück weit dadurch konterkariert, dass die Norm keineswegs verbietet, Informationen aus laufenden Ermittlungsverfahren preiszugeben, solange sie nicht "im Wortlaut" veröffentlicht werden. Umschreibungen und Interpretationen der betreffenden Dokumente – selbst verfälschende – sind daher nicht verboten. Der Schutz, den die Norm bewirkt, ist folglich eher gering. Wenn damit auch – das dürfte unstreitig sein – ein Eingriff in die Pressefreiheit einhergeht, stellt sich naturgemäß die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer solchen Strafvorschrift. "Wenn die Politik nicht handelt, muss notfalls das Bundesverfassungsgericht ran", bekundet Semsrott im Vorfeld der Berliner Verhandlung. Damit dürfte die Marschroute für das Verfahren klar sein, Semsrott und die GFF, die für ihre strategische Prozessführung bekannt ist, zielen auf den Gang nach Karlsruhe – ob in einer Vorlage des LG oder im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde. 

Ist § 353d wirklich unverhältnismäßig?

Doch ob das BVerfG die Norm tatsächlich beanstanden würde, ist schwer zu prognostizieren. Klar ist nur, dass ein Gesetz – auch eine Strafvorschrift – nicht gleich deshalb verfassungswidrig sein muss, weil sie ihrem Zweck nur unzureichend dient. Der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg Eisele verweist dazu im Gespräch mit beck-aktuell auf die großzügigen Maßstäbe der Karlsruher Richterinnen und Richter: "Es entspricht der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG, dem Gesetzgeber einen großen Spielraum für die Beurteilung der Eignung zuzugestehen." An der Hürde der "Geeignetheit", wie es in der juristischen Fachsprache heißt, scheitere eine Norm folglich nur dann, wenn sie evident vollkommen ungeeignet sei, dem gesetzgeberischen Zweck zu dienen. Somit sei es zwar "nicht unbedingt plausibel, zwischen wörtlichen und nicht wörtlichen Veröffentlichungen zu trennen", so Eisele. Dass damit überhaupt kein Schutz des Gerichtsverfahrens und der Beschuldigten mehr erreicht werden könne, müsse das aber nicht heißen. Schließlich – darauf habe auch das BVerfG abgezielt – besäßen wörtliche Zitate oder, wie im Fall Semsrott, gar vollständig veröffentlichte Kopien von Dokumenten eine höhere Glaubwürdigkeit als Umschreibungen und Interpretationen, meint Eisele.

Schließlich wird man auch die Aussage der GFF, § 353d StGB halte Medien immer wieder davon ab, aus laufenden Strafverfahren zu berichten, schon deshalb in Zweifel ziehen müssen, weil dies tatsächlich oft geschieht. Beispiele von Strafverfahren gegen prominente Personen, über die schon lange vor einer Hauptverhandlung – zu der es mitunter gar nicht mehr kommt – extensiv berichtet wird, finden sich reichlich. Anklagen sind in den meisten Fällen nicht erfolgt, weil Berichte, die keine wörtlichen Zitate enthalten, von der Strafbarkeit nicht erfasst sind. Ob das BVerfG die Norm damit als unverhältnismäßig einstufen wird, ist daher jedenfalls nicht ausgemacht.

Strafrechtsprofessor Eisele: Fall Semsrott die am ehesten strafwürdige Konstellation

§ 353d StGB bilde die in Deutschland recht klare Trennung zwischen Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung ab, erläutert der Strafrechtler Eisele. Während eine strafrechtliche Hauptverhandlung – von Ausnahmen abgesehen – prinzipiell öffentlich ist, verläuft das Ermittlungsverfahren unter dem Deckmantel behördlicher Geheimhaltung. "Das spiegelt sich in dieser Vorschrift wider", konstatiert Eisele. "Wenn das Ermittlungsverfahren öffentlicher wäre, wäre es schwieriger, § 353d zu rechtfertigen." Die Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens schützt vor allem das Persönlichkeitsrecht der Beschuldigten, die sich – anders als in der Hauptverhandlung – nicht unmittelbar dagegen verteidigen können. Gleichwohl, gibt Eisele zu bedenken, könne sie ihnen auch schaden. Denn Informationen würden dennoch öfter durchgestochen. Sollten diese sie öffentlich belasten, könnten sich Beschuldigte nicht dadurch verteidigen, ihrerseits entlastendes Material zu publizieren, das Gegenstand der Ermittlungsakte ist. Denn auch für sie gibt es keine Ausnahme vom pauschalen Verbot.

Eisele selbst plädiert daher für eine Abschaffung der Norm. Der Fall Semsrott allerdings sei gerade die Konstellation, welche die Norm am wenigsten in Frage stellen könne. Schließlich sei er nicht Beschuldigter in den fraglichen Verfahren gewesen, somit durch den Straftatbestand nicht geschützt.

Zudem habe er nicht nur den Inhalt des Dokuments im Wortlaut veröffentlicht, sondern das Dokument selbst in Form einer Kopie öffentlich zugänglich gemacht. In einem solchen Fall, so Eisele, halte er das strafrechtliche Verbot für am ehesten vertretbar. Sollte der Fall in Karlsruhe landen, traut auch er sich kein Urteil zu, wie das BVerfG entscheiden würde. Außer diesem: Es werde vermutlich absehbar das letzte Verfahren wegen § 353d StGB sein.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 15. Oktober 2024.