Israels Oberstes Gericht kippt Kernelement der Justizreform
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© Kay Nietfeld / dpa

Mit einer hauchdünnen Mehrheit von acht der 15 Richter hat Israels oberstes Gericht eine im Juli 2023 verabschiedete Grundgesetzänderung für nichtig erklärt. Diese hatte dem Gericht die Möglichkeit genommen, gegen "unangemessene" Entscheidungen der Regierung, des Ministerpräsidenten oder einzelner Minister vorzugehen.

Das Gericht kippte damit ein Kernelement der umstrittenen Justizreform von Regierungschef Benjamin Netanjahu – und das mitten im Gaza-Krieg. Kritiker hatten gewarnt, dass die Grundgesetzänderung die Korruption und die willkürliche Besetzung wichtiger Posten fördern könnte. Entsprechend lobten Vertreter der Demokratiebewegung und der Opposition das Urteil am Montag. In dessen Begründung hieß es, die Gesetzesänderung hätte "den Kerneigenschaften des Staates Israel als demokratischem Staat schweren und beispiellosen Schaden zugefügt". Die von der Regierung seit ihrer Vereidigung vor einem Jahr massiv vorangetriebene Justizreform hatte die israelische Gesellschaft tief gespalten. Über Monate gingen immer wieder Hunderttausende von Menschen auf die Straße, um zu protestieren.

In Israels Geschichte wurde bisher noch nie ein vergleichbares Gesetz vom Obersten Gericht einkassiert. Die Regierung hatte die Gesetzesänderung trotz massiven Widerstands im Parlament durchgesetzt. Sie argumentierte, das Gericht sei in Israel zu mächtig, man wolle lediglich ein Gleichgewicht wiederherstellen. Verhandlungen über einen Kompromiss waren erfolglos geblieben. Israels Oberstes Gericht war daraufhin im September zu einer historischen Gerichtsverhandlung zusammengetreten. Erstmals in der Geschichte des Landes kamen alle 15 Richter zusammen, um über acht Petitionen gegen die verabschiedete Grundgesetzänderung zu beraten.

Kritiker der Justizreform sehen Demokratie gestärkt

Für den ohnehin angeschlagenen Regierungschef Netanjahu ist das Gerichtsurteil ein weiterer Rückschlag. In Umfragen hatte er seit dem 7. Oktober massiv an Popularität verloren. Viele sahen die monatelangen heftigen Streitigkeiten als einen Grund dafür, dass Israel am 7. Oktober von dem verheerenden Angriff der islamistischen Hamas im Grenzgebiet so überrascht werden konnte. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari sagte am Montag, die Hamas habe ihren Überfall möglicherweise auch deshalb am 7. Oktober ausgeführt, weil sie die israelische Gesellschaft im Chaos wähnte. Sollte die rechtsreligiöse Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Entscheidung nicht akzeptieren, droht dem Land nun sogar eine Staatskrise.

Die israelische Bewegung für Qualitätsregierung sprach indes nach dem Urteil des Obersten Gerichts von einem "historischen Tag". Dies sei "ein riesiger öffentlicher Sieg derer, die für Demokratie kämpfen", hieß es in einer ersten Stellungnahme der Organisation. Sie hatte eine von insgesamt acht Petitionen gegen die im Juli im Parlament verabschiedete Grundgesetzänderung eingereicht. Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid drückte ebenfalls seine Unterstützung für das Oberste Gericht aus. Das Gericht habe treu seinen Auftrag erfüllt, die Bürger Israels zu schützen. "Wir geben dem Obersten Gericht volle Rückendeckung", schrieb Lapid auf der Plattform X, vormals Twitter.

Auch der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), Volker Beck, begrüßte das Urteil als Sieg des Rechtsstaates in Israel. "Die Beschränkungen der Kompetenzen des Obersten Gerichtshofes bei unangemesseneren Entscheidungen durch die Mehrheit der Knesset sind damit rechtswidrig. Das Recht steht über dem politischen Mehrheitswillen", schrieb er in einer Stellungnahme am Montag. "Es bleibt zu hoffen, dass die Mehrheit der Knesset anerkennt, dass sie nicht über dem Recht steht."

Regierung hadert mit Entscheidung

Netanjahus rechtskonservative Likud-Partei kritisierte in einer Stellungnahme indes sowohl das Urteil als auch den vom Gericht gewählten Zeitpunkt für dessen Bekanntmachung. "Die Gerichtsentscheidung widerspricht dem Willen des Volkes nach Einigkeit vor allem in Zeiten des Krieges." Ähnlich äußerte sich Justizminister Levin laut der Nachrichtenseite ynet, betonte jedoch, man werde sich von dem Urteil nicht entmutigen lassen. Der israelische Parlamentspräsident Amir Ochana sprach dem Obersten Gericht gar die Autorität ab, Grundgesetze für nichtig zu erklären. Dies sei "offensichtlich", sagte Ochana Medienberichten zufolge. "Noch offensichtlicher ist es, dass wir uns damit nicht befassen können, solange der Krieg auf seinem Höhepunkt ist", sagte Ochana demnach.

Das Urteil müsse respektiert werden, schrieb hingegen Benny Gantz, Minister in Israels Kriegskabinett auf der Plattform X. Das Verhältnis zwischen den Autoritäten des Landes müsse geregelt werden - allerdings erst nach dem Krieg, betonte Gantz, dessen Partei jüngsten Umfragen zufolge bei einer Wahl derzeit mit Abstand stärkste Fraktion werden würde.

Unklar ist, wie die Regierung nun in der Praxis auf das Urteil reagieren wird. In einem Interview des US-Senders CNN im September wollte Netanjahu nicht eindeutig auf die Frage antworten, ob er eine Entscheidung des Gerichts gegen die Gesetzesänderung respektieren würde. Netanjahu sagte damals: "Ich glaube, wir sollten uns an die Urteile des Obersten Gerichts halten und das Oberste Gericht sollte sich an die Grundgesetze halten, die das Parlament verabschiedet."

Redaktion beck-aktuell, gk, 2. Januar 2024 (dpa).