beck-aktuell: Frau Göztepe Çelebi, der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu sitzt seit Sonntag in einem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis außerhalb der Stadt in Untersuchungshaft. Was genau wird ihm vorgeworfen?
Göztepe Çelebi: Gegen Ekrem Imamoğlu lagen bereits vor seiner Festnahme mehrere Strafverfahren vor, die seit langem anhängig sind und in denen rechtskräftige Urteile auf sich warten lassen. Presseberichten zufolge lauten die aktuellen Anschuldigungen, die am Sonntag zu einer U-Haft geführt haben: Gründung und Leitung einer kriminellen Vereinigung, Erpressung, Bestechung, Manipulation bei öffentlichen Ausschreibungen, unrechtmäßiges Sammeln personenbezogener Daten und Zusammenarbeit mit einer terroristischen Vereinigung. Die U-Haft stützt sich aber nicht auf die Anschuldigung wegen terrorbezogener Taten, die unmittelbare Folgen für sein Amt als Bürgermeister hätten, sondern auf die anderen vorgeworfenen Handlungen.
beck-aktuell: Wie kam es zu dem Verfahren gegen ihn?
Göztepe Çelebi: Schon seit seinem ersten Wahlsieg 2019 als Bürgermeister von Istanbul wird er strafrechtlich verfolgt, aber keines der Urteile ist bis jetzt rechtskräftig. Der Auslöser dieser Strafermittlung war eher die Aktion der CHP-Führung, ihn am 23. März als Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen im Jahre 2028 zu nominieren. Dadurch erhoffte man sich einerseits Klarheit innerhalb der Partei für die Kandidatur, andererseits mehr politische Rückendeckung für Imamoğlu. Die CHP wollte zudem eine langfristige Wahlkampfstrategie einsetzen und nicht wie bisher auf der letzten Strecke Wahlkampf machen.
Verhaftung live übertragen
beck-aktuell: Viele Türkinnen und Türken zweifeln an den Vorwürfen gegen Imamoğlu und halten das Strafverfahren für politisch motiviert. Gibt es dafür konkrete Anzeichen?
Göztepe Çelebi: Der Zeitpunkt und das Ausmaß der Verhaftungswelle – neben Imamoğlu wurden mehr als hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung Istanbul festgenommen, darunter seine engsten, sowie die Liveübertragung vor Ort – die Verfahrensvorschriften schreiben vor, dass die Strafermittlungen geheim geführt werden – nähren den Verdacht, dass die Anschuldigungen politisch motiviert sein könnten, um Imamoğlu als Präsidentschaftskandidat zu diskreditieren.
beck-aktuell: Imamoğlu gilt als aussichtsreicher Herausforderer Erdoğans bei einer künftigen Präsidentenwahl. Wofür steht er politisch?
Göztepe Çelebi: Er ist Mitglied der CHP, der republikanischen Volkspartei, die als Staatsgründerpartei für die unveränderlichen Prinzipien der Verfassung steht: sozialer Rechtsstaat, Demokratie, Laizismus, Menschenrechte sowie Nationalismus gemäß den Prinzipien Atatürks. Er verkörpert aber auch Volksnähe als gläubiger Muslim, der die Religion als Privates versteht und lebt, sie aber nicht politisiert. Ich glaube, dass diese Eigenschaft ihn als aussichtsreichen Rivalen von Erdoğan auszeichnet.
"Niemand darf das Gefühl haben, dass das Recht instrumentalisiert wird"
beck-aktuell: Was bedeutet das Verfahren gegen ihn für den Rechtsstaat in der Türkei als Ganzen?
Göztepe Çelebi: Wenn die Gesetze, die normativ betrachtet die rechtsstaatlichen westeuropäischen Standards im Großen und Ganzen erfüllen, personenbezogen ihrem Sinn und Geist enthoben werden, können der Glaube an den Rechtsstaat und die Glaubwürdigkeit der Staatsorgane großen Schaden nehmen. Es stört mich persönlich sehr, dass in die Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte von Personen und ihren Familienmitgliedern, auch wenn sie öffentliche Ämter bekleiden, rücksichtslos und unverhältnismäßig eingegriffen wird. Das Rechtsstaatsprinzip muss eingehalten werden, damit niemand das Gefühl hat, dass das Recht für andere Zwecke instrumentalisiert wird. Genau das steht nun in der Türkei auf dem Spiel.
beck-aktuell: Was hat sich – kurz zusammengefasst – seit 2016 im türkischen Rechtssystem konkret verändert?
Göztepe Çelebi: Nach dem versuchten Militärputsch am 15. Juli 2016 wurde umgehend der Ausnahmezustand ausgerufen, der zwei Jahre dauerte. In diesem Zeitraum hat die Exekutive durch 32 Ausnahmerechtsverordnungen auch die Rolle der Legislative übernommen. Da auch das Verfassungsgericht seine langjährige Rechtsprechung aufgab, die Rechtsverordnungen im Ausnahmezustand auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen, hatte die Exekutive freie Hand, gegen politische Gegner vorzugehen. Anhand mehrerer aktueller Urteile des EGMR gegen die Türkei kann man das Ausmaß dieses verfassungs- und konventionswidrigen Handelns sehen.
"Wenn alle Anschuldigungen aufrecht erhalten werden, drohen mehr als 25 Jahre"
beck-aktuell: Was ist dann geschehen?
Göztepe Çelebi: Mitten im Ausnahmezustand hat das Parlament mit der Mehrheit der AKP und ihrem inoffiziellen rechtsnationalistischen Koalitionspartner MHP eine umfassende Verfassungsänderung zum Referendum vorgelegt. Trotz mehrerer Unregelmäßigkeiten wurden diese Änderungen angenommen. Damit wurde die parlamentarische Demokratie aufgegeben und ein Regierungssystem ohne Beispiel in der westlichen Welt eingeführt, das sogenannte Staatspräsidentensystem. Der Staatspräsident verkörpert allein die Exekutive, wobei "seine Minister" ohne die Zustimmung des Parlaments direkt von ihm berufen werden. Mithilfe der parlamentarischen Mehrheit der AKP und MHP können seine Kompetenzen derzeit auch nicht durch Gesetze eingeschränkt werden. Auch die Judikative steht mittelbar unter seinem Einfluss. So werden z.B. gemäß Art. 159 der Verfassung die Mitgliederinnen und Mitglieder des Richter- und Staatanwälterates teils vom Staatspräsidenten, teils von der einfachen Mehrheit des Parlaments gewählt. Angesicht der Tatsache, dass der Staatspräsident über die Mehrheit im Parlament verfügt, kann man von keinem politischen Kompromiss bei der Wahl dieses überaus wichtigen Rates für die Judikative sprechen.
Dasselbe gilt für die anderen hohen Gerichte und sogar das Verfassungsgericht. Es ist also kein Zufall, dass man heute von einer fügigen und nicht unabhängigen Justiz spricht. Denn der Richter- und Staatsanwälterat herrscht von der Auswahl bis zur Beförderung über das ganze Justizsystem. Sein Vorsitzender ist der Justizminister und wiederum sein Staatssekretär ist natürliches Mitglied des Rates. Obwohl in mehreren Dokumenten des Europarates und den Fortschrittsberichten der Europäischen Union diese Struktur scharf kritisiert wird, hat sich nichts geändert.
beck-aktuell: Welche Chancen hat die Verteidigung Imamoğlus? Was droht ihm?
Göztepe Çelebi: Laut Medienberichten vom heutigen Freitag ist auch einer der Anwälte von Imamoğlu festgenommen worden. Natürlich wird er von mehreren Rechtsanwälten vertreten, aber man fragt sich, was ihm vorgeworfen wird.
Da die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft noch nicht vorliegt, können wir das geforderte Strafmaß für Imamoğlu nur raten. Wenn alle bisherigen Anschuldigungen aufrechterhalten werden und das Mindestmaß als Strafe festgelegt wird, kommt man zusammen schon auf mehr als 25 Jahre Haftstrafe.
"Die Judikative ist 'the least dangerous branch'"
beck-aktuell: Am Freitag kam die Nachricht, dass ein türkisches Gericht angeordnet habe, den Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer des Amtes zu entheben. Hintergrund ist wohl ein Social-Media-Post zum Tod zweier kurdischer Journalisten in Nordsyrien. Wie haben Sie diesen Fall wahrgenommen? Sind Sie überrascht von dem harten Vorgehen?
Göztepe Çelebi: In der Tat, ja. Die Norm, auf welche sich die Staatsanwaltschaft beruft, stammt aus dem Jahr 1997 und wurde bisher nie angewendet. Es ist also für alle Beteiligten Neuland und wird ein Präzedenzfall für andere Anwaltskammern. Allerdings stammt die Kompetenznorm in § 58 des Anwaltsgesetzes, die der Staatsanwaltschaft mehrere Kompetenzen überträgt, aus dem Jahr 2008; also aus der Feder der parlamentarischen Mehrheit der AKP.
Die Staatsanwaltschaft beruft sich inhaltlich auf § 76 Abs. 2 ("Die Anwaltskammern dürfen keine Tätigkeiten ausüben, die nicht dem Zweck ihrer Gründung entsprechen"), wobei man sich klarmachen muss, dass die Istanbuler Anwaltskammer die Völkerrechtswidrigkeit eines Drohnenangriffes kritisiert hatte. Gemäß § 76 Abs. 1 Anwaltsgesetz sind die Anwaltskammern beauftragt, "die Berufsethik, die Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte zu verteidigen und zu schützen".
beck-aktuell: Wie reagiert die türkische Juristen-Community aus Anwaltschaft und Wissenschaft auf die jüngsten Eskalationen?
Göztepe Çelebi: Die Türkische Anwaltskammer (TBB) sowie die Vertreterinnen und Vertreter mehrerer regionaler Anwaltskammern sind vor Ort. Es gibt hier und da Solidaritätsbekundungen. Aber man muss auch sehen, dass die oppositionellen Kräfte mit ganzer Wucht an vielen Stellen attackiert und physisch überfordert werden. Man wird einfach davon abgehalten, seiner Arbeit nachzugehen. Das ist auch eine wirksame Strategie, die Opposition zu schwächen und zu spalten.
beck-aktuell: Glauben Sie, dass Erdoğan über dieses Verfahren stürzen könnte?
Göztepe Çelebi: Das ist eine sehr politische Frage, die man mit juristischen Kriterien schlecht beantworten kann. Aber angesichts der Tatsache, dass der Präsidentschaftskandidat von 2016, Selahattin Demirtaş, damals Abgeordneter der prokurdischen HDP, sowie Can Atalay, ehemals Abgeordneter der Arbeiterpartei TIP und Osman Kavala, Geschäftsmann und Mäzen, trotz mehrerer Urteile des Verfassungsgerichts und des EGMR seit Jahren in Haft sitzen, sollte man sich an die Worte der "founding fathers" in den USA erinnern, dass die Judikative gegenüber der Exekutive "the least dangerous branch" ist.
Ece Göztepe Çelebi ist Professorin für türkisches und vergleichendes Verfassungsrecht an der Bilkent Universität in Ankara.
Die Fragen stellte Maximilian Amos.