beck-aktuell: Aktuell debattiert die Politik, ob die umstrittene Analysesoftware Gotham des US-Softwarekonzerns Palantir bundesweit von Polizeibehörden eingesetzt werden soll. Während unionsgeführte Länder im Bundesrat und wohl auch Innenminister Dobrindt dafür sind, kommt scharfe Kritik von Grünen, FDP und auch aus den Reihen der SPD. Herr Professor Vasel, was genau macht diese Software eigentlich?
Prof. Dr. Johann Justus Vasel: Es handelt sich dabei um eine Data-Mining-Software, also ein Analysetool, um nützliche Informationen aus einer großen Ansammlung von Daten zu extrahieren. Das funktioniert durch Datenintegration, Datenaufbereitung und Datenvisualisierung. Die Sicherheitsbehörden in Deutschland setzen die Palantir-Software ein, um große Datenmengen zu verarbeiten und die bestehenden Silostrukturen der Datenbanken zu überwinden. Das System kann dazu an unterschiedliche Informationssysteme angeschlossen werden, von der Vorgangsverwaltung über das Waffenregister bis hin zu öffentlichen Quellen.
beck-aktuell: Die Software zapft also Datenbanken an, die sonst nicht miteinander vernetzt wären, und fügt daraus für die Ermittlungsbehörden ein Bild zusammen?
Vasel: Das kann man sich so vorstellen, wobei es eben den Behörden obliegt, zu entscheiden, welche Datenbanken miteinander verknüpft und woraus die Daten aufbereitet und visualisiert werden. Die Visualisierung ist im Übrigen ein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn die Polizei wäre sonst kaum in der Lage, bestimmte Dinge miteinander in Verbindung zu setzen und Muster zu erkennen.
"Manche fürchten einen orwell’schen Überwachungsstaat"
beck-aktuell: Kann man sich diese Visualisierung als eine Art Mindmap oder Diagramm vorstellen?
Vasel: Das variiert je nach Einsatz. Aber stellen sie sich vor, Sie haben eine riesige tabellarische Aufschlüsselung von Telefonverbindungen mit Nummern aus dem In- und Ausland. Kaum jemand wird alle möglichen Vorwahlen erkennen, aber wenn sie plötzlich eine Weltkarte haben, auf der die Verbindungen visualisiert sind, können Sie sehen, wo sich jemand wann aufgehalten hat, mit wem er an welchem Ort telefoniert hat, etc. Das ist ein ungemeiner Vorteil gegenüber einer rein tabellarisch-numerischen Aufstellung der Funkverbindungen.
beck-aktuell: Also nutzt Gotham im Grunde Daten, die schon da sind, aber verwendet sie für eine Übersicht, die man sonst aus diesen Daten händisch nicht gewinnen könnte?
Vasel: Das ist zutreffend. Händisch könnte man das sicherlich schon, aber nur mit sehr hohem Ressourceneinsatz. Vermutlich würden viele Muster nicht oder nur mit sehr großem Aufwand identifizierbar sein.
beck-aktuell: Das klingt nach einem wahren Wunderwerkzeug, aber der Einsatz der Software ist sehr umstritten. Welche Bedenken haben denn Datenschützerinnen und Juristen gegen den Einsatz von Gotham?
Vasel: Die Bedenken sind sehr heterogen und variieren je nach politischer Blickrichtung. Aber es geht im Kern um die Zusammenführung von Daten. Das sind zum Teil sehr sensible, persönliche Daten, zum Teil auch völlig banale, und wenn man diese zusammenführt, dann ist am Ende auch ein Profiling möglich. Manche fürchten zukünftig ein Predictive Policing oder die Entwicklung hin zu einem orwell‘schen Überwachungsstaat, in dem der Rechtsstaat unterminiert wird und Grundrechte wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausgehöhlt werden.
"Da werden verfassungsrechtliche Grenzen nicht ernst genommen"
beck-aktuell: Ein wichtiger Kritikpunkt ist auch der mögliche Abfluss von Daten auf amerikanische Server, wenn man auf diese Software setzen würde. Der Palantir-Konzern entgegnet, man könne die Daten auch rein lokal speichern. Halten Sie das für realistisch oder muss man bei einer Software aus den USA immer mit einer Hintertür rechnen?
Vasel: Nach meinem Kenntnisstand stehen im Zusammenhang mit der hiesigen Nutzung der Palantir-Software alle Server in Deutschland. Gleichwohl weiß jeder technisch versierte Mensch, dass ein externer Zugriff nie vollständig ausgeschlossen werden kann. Das Fraunhofer Institut hat jedenfalls das auf Gotham basierende bayerische System Vera untersucht und für unbedenklich erklärt. Momentan wird auch noch untersucht, ob es einen sogenannten "Kill Switch" geben könnte, also eine Abschaltmöglichkeit aus dem Ausland. Insgesamt wäre eine deutsche oder europäische Lösung wohl datenschutzrechtlich sicherer und damit vorzugswürdig, aber das ist in weiter Ferne. Palantir ist mit einer mehr als zwanzigjährigen Expertise und Erfahrung unzweifelhaft der Marktführer und mittelfristig nicht einholbar.
beck-aktuell: Das BVerfG hat sich schon einmal mit Gotham – in Gestalt seiner hessischen Variante Hessendata – befasst. Dabei hat es den Einsatz nicht völlig untersagt, sondern im Wesentlichen präzisere Ermächtigungsgrundlagen gefordert. Kürzlich erschien aber ein Bericht des Recherchenetzwerks von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, wonach sich die Behörden wohl nicht an diese Vorgaben halten und die Software nicht nur zur Verhinderung von Anschlägen oder zur Abwehr schwerwiegender Gefahren einsetzen, sondern zum Beispiel auch bei Eigentumsdelikten. Wird das BVerfG also noch einmal ranmüssen?
Vasel: Gegen die Eingriffsnorm in Nordrhein-Westfalen, § 23 Abs. 6 PolG NRW, ist bereits seit Oktober 2022 eine Verfassungsbeschwerde anhängig und gegen die Novellierung in Hessen wurde eine neue Verfassungsbeschwerde im Juni 2024 eingereicht. Gegen die bayerische Befugnisnorm ist nach meinem Kenntnisstand eine Beschwerde in Vorbereitung. Und in der Tat machen die Behörden keinen Hehl daraus, dass sie die Software sehr weitreichend nutzen wollen. In Hessen bspw. ist sogar explizit im Koalitionsvertrag vorgesehen, dass Hessendata für andere Delikte als schwerste Kriminalität und sehr weitreichend eingesetzt werden kann. Es scheint mir mitunter, dass man die verfassungsgerichtlichen Grenzen nicht ganz ernst nimmt.
"Bei der digitalen Souveränität werden wir Abstriche machen müssen"
beck-aktuell: Ein weiteres Problem ist die in Deutschland und Europa vielfach beschworene digitale Souveränität, die unterlaufen werden könnte, wenn deutsche Polizeibehörden von einem amerikanischen Softwarekonzern abhängig wären. Könnte die bedenkliche Entwicklung der USA in den vergangenen Monaten in Bezug auf den Umgang mit Bürgerrechten auch für die rechtliche Bewertung von Gotham eine Rolle spielen?
Vasel: Das kann und wird sicherlich eine Rolle spielen. Das BVerfG hat in seiner bereits vorliegenden Entscheidung schon anklingen lassen, dass besondere Sorgfalt geboten ist, wenn es sich um ein ausländisches Softwareprodukt handelt, welches die deutschen Sicherheitsbehörden nutzen. Gleichwohl sind wir in vielen Dingen auf amerikanische Softwareprodukte angewiesen, etwa von Microsoft, Apple und vielen anderen. Mit Blick auf die digitale Souveränität wird man insofern Abstriche machen müssen.
Im Koalitionsvertrag von Union und SPD ist explizit die Rede davon, dass solche Software eingesetzt werden soll. Allerdings wird dabei als eine Voraussetzung unterstrichen, dass der digitalen Souveränität Rechnung zu tragen sei.
beck-aktuell: Für viele Kritikerinnen und Kritiker ist nicht nur die US-Regierung ein Problem, sondern auch der umstrittene Investor Peter Thiel, der hinter dem Palantir-Konzern steht. Thiel steht u. a. Elon Musk nahe und ist in der Vergangenheit immer wieder mit durchaus kruden, libertären und teils auch demokratiefeindlichen Thesen aufgefallen. Macht die Person Thiel den Einsatz der Palantir-Software in Deutschland noch problematischer?
Vasel: Nach meiner Kenntnis ist Thiel bei Palantir nicht operativ oder strategisch eingebunden, weshalb man sich stattdessen eher auf den einzigen und derzeitigen CEO und Mitgründer Alexander Karp fokussieren sollte. Karp gilt eher als Liberaler, saß zeitweise in deutschen Konzernen in Aufsichtsräten. Wenn man sich seine Äußerungen, Interviews und auch sein letztes Buch anschaut, wird relativ deutlich, dass er ein "Techno-Patriot" ist, der an den Westen glaubt und für diesen einstehen will – wenngleich mitunter Maß und Methode zweifelhaft sein mögen. Ungeachtet dessen bleibt es dabei, dass wir von Produkten aus der ganzen Welt, auch aus den Vereinigten Staaten, auf lange Sicht abhängig bleiben.
beck-aktuell: Herr Professor Vasel, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Prof. Dr. Johann Justus Vasel ist Inhaber der Juniorprofessur für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung von Rechtsfragen der künstlichen Intelligenz an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Die Fragen stellte Maximilian Amos.
Das ganze Gespräch hören Sie in der aktuellen Folge 59 von Gerechtigkeit & Loseblatt – Die Woche im Recht, dem Podcast von NJW und beck-aktuell.